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Titel:... in die Sucht gerutscht.
Droge:Alkohol
Autor:9mm
Datum:06.12.2006 16:27
Nützlichkeit:9,15 von 10 möglichen   (123 Stimmen abgegeben)

Bericht::

Alkohol - die legale und leicht zu beschaffende Droge schlechthin.

... und mehr noch als gesellschaftlich akzeptiert: Trinken gehört zum "guten Ton" mit dazu und ist längst nicht mehr wegzudenken aus dem kulturellen Leben, man denke an Sektempfänge, Umtrünke, den Wein zum guten Essen, ... die Liste lässt sich beliebig lang fortsetzen.



Beim Stichwort "Alkoholiker" wird das Bild des verlotterten Penners auf der Parkbank assoziiert, aber dass Alkoholsucht auch hinter scheinbar intakten Fassaden existiert, ist den wenigsten bewusst.



... zu diesen Menschen zählen meine Eltern.

Ich bin aufgewachsen in einer Familie, in der Alkohol aus dem Tagesablauf nicht wegzudenken ist:

der Klare am Vormittag, eine Flasche Rotwein zum Mittagessen, anschließend der Verdauungsschnaps. Ein, zwei Gläser Weißwein bei der Schreibtischarbeit. Nachmittags, als Belohnung für die getane Arbeit, wieder Schnaps. Und abends dann mehrere Flaschen Prosecco und Wein; Tag für Tag, jahrelang, seit ich mich erinnern kann.



Bei allen Auseinandersetzungen, die zumeist abends - wenn sie längst nicht mehr nüchtern sind - stattfinden, stimmt stets die Fassade nach außen: ein gepflegtes Aussehen, man achtet auf Niveau und Kultur.



Es hat lange gedauert, bis ich gemerkt und mir eingestanden habe, dass das Trinkverhalten meiner Eltern längst das Maß des Normalen überschritten hat.

Als Kind hatte ich nicht verstanden, was der Grund dafür war, dass meine Mom immer so verändert war, als wäre sie eine andere Persönlichkeit - erst als ich älter wurde, konnte ich das auf den Alkohol zurückführen. Sie ist dann wie ausgewechselt, gefühlskalt, lächerlich, einfach nur abstoßend - ich denke, jeder kennt den Unterschied zwischen einem nüchternen und einem betrunkenen Menschen. Das Ganze führte soweit, dass ich bis heute zwischen zwei verschiedenen Personen bei ihr unterscheide - solange sie nüchtern ist, ist es meine Mama, die ich über alles liebe, und sobald sie getrunken hat, ist es meine Mutter - eine Frau, die ich verachte.



Als ich erkannt hatte, was der Grund für diese Veränderung war, schwor ich mir, niemals einen Tropfen anzurühren, weil ich nicht so werden wollte wie meine Eltern.



Ihr Gelalle ekelte mich an; wenn ich abends im Bett lag und meine Mutter irgendwann ins Bad torkelte, das Geräusch der auf die Fliesen knallenden Parfumfläschchen und Cremedosen, die sie im Suff umgeworfen hatte; wenn sie in diesem Zustand anfing, mit mir zu diskutieren, und dabei viel zu dicht war um einen vernünftigen Gedanken zu fassen-

... wenn ich nachts von einem dumpfen Knall aufwachte, schon ahnend, was los war, ins Schlafzimmer meiner Eltern ging und mein Vater sternhagelvoll auf dem Boden vorm Schrank lag, unfähig, wieder aufzustehen, und sich eingemacht hatte, während meine Mutter ebenso betrunken nur auf ihn einschrie-

Ich war es, die sich in solchen Situationen gezwungen hat, sich zusammenzureißen, und alles wieder in Ordnung zu bringen... ich war noch ein Kind-



Bis zu meinem 16. Lebensjahr habe ich tatsächlich nichts getrunken.



Dann kam der Totalabsturz, ich weiß bis heute nicht, was genau der Auslöser für diese plötzliche Kehrtwende war; erste Alkoholvergiftung, und von da an regelmäßig relativ große Mengen an Alkohol. Ich trank alleine, ich trank auf Parties, und ich trank mit meinen Eltern zusammen.

Irgendwann war ich soweit, dass ich morgens aufwachte und mein erster Griff der nach der Flasche neben dem Bett war. Das war der Punkt, an dem ich mir eingestanden habe, ein Problem mit dem Trinken zu haben. Mit viel Selbstdisziplin gelang es mir, meinen Konsum derart einzuschränken, sodass ich nur noch abends trank und das auch nicht mehr jeden Tag.



In meinem Alltag türmten sich andere Probleme auf, und irgendwann war ich wieder soweit, dass ich tagtäglich zur Flasche griff. Dabei ging es nicht einmal soweit, dass ich mich jedesmal abschoss, nein, aber nüchtern hielt ich es einfach nicht mehr aus, ich floh vor dem Gefühl, dass mir die Decke auf den Kopf fiel, vor der inneren Leere und Einsamkeit.



Aufgrund der Tatsache, dass meine Mama mich, als ich noch klein war, Abend für Abend quasi verlassen hat, indem sie sich zusoff, habe ich selber jetzt große psychische Probleme, insbesondere mit dem Verlassenwerden, dem Alleinsein und - natürlich - Abhängigkeiten.



Jetzt bin ich 19 und wenn ich zurückblicke, habe ich innerhalb der letzten zwei Jahre einen Rekord von zwei Wochen ohne Alkohol - ein trauriger Rekord. Unzählige Entzugsversuche, die meist nach wenigen Tagen kläglich gescheitert sind...



Den Anstoß zu meinem jetzigen Entzug hat mir letzlich, neben dem was ich bei meinen Eltern erlebe, ein Aufenthalt in der Geschlossenen für Suchterkrankungen gegeben... so verdammt viele Alkoholiker, die mehr Wracks waren denn Menschen. So will ich nicht enden, verdammt.



Momentan bin ich bei Tag 10... und der Druck wird von Tag zu Tag größer.

Körperliche Entzugserscheinungen habe ich so gut wie keine, aber das psychische Verlangen ist immens. Gerade weil Alkohol im Alltag so omnipräsent ist... in jedem Supermarkt, in jedem Kiosk lächeln mich die Flaschen an.

Ich ertappe mich dabei, wie ich auf andere Drogen ausweiche, weil ich das Craving nicht mehr aushalte... aber meine Sturheit hindert mich daran, dem Verlangen nach Alk nachzugeben.

Wie lange ich es noch ohne Alk aushalte? Keine Ahnung.



... ich könnte jetzt noch endlos mehr schreiben, aber an dieser Stelle höre ich einmal auf, ehe es zu lang wird.