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Abwesender Träumer

dabei seit 2020
1 Forenbeiträge

  Geschrieben: 26.10.20 11:45
Hallo alle.

Mein Name ist Stefan, ich bin 47 Jahre alt, und ungefähr 20 Jahre davon habe ich unter dem Einfluss des einen oder/und anderen Rauschmittels verbracht. Polytox mit einem gewissen Hang hin zur Betäubung. Vor allem viel Benzos, viel Heroin, viel Lyrica.

Seit sechs Jahren bin ich frei von illegalen Drogen und nehme auch keine Medikamente mehr. Der Weg da hin war sehr lang und auch ganz schön mühselig. Ich habe zwei stationäre Therapien gemacht, allerhand Psychoanalyse, diverse Aufenthalte in der Psychosomatik und ich war lange bei NA. Kein Knast. Und irrerweise habe ich immer noch den ersten Führerschein.

Ich erzähle Euch das, weil ich jüngst angefangen habe, als Nacht- und Präsenzdienst in einer Therapie-Einrichtung zu arbeiten. Nicht als Therapeut, sondern als Ansprechpartner für die Klienten, wenn vom Team sonst keiner da ist, und um aufzupassen, dass nichts schief läuft. Das hat viele Erinnerungen reaktiviert und mich stark ins Grübeln gebracht. Nämlich sehe ich bei meiner Arbeit, was ich in meiner eigenen Umschwungs-Phase selbst erlebt habe und hundertfach (ich war auch in der Salusklinik) bei Mitpatienten beobachtet habe:

Das mit der Therapie, das funktioniert nicht wirklich gut. Dass der übergroße Anteil derer, die Therapie machen, keine echte Chance hat, auch nur halbwegs drogenfrei zu bleiben. Auch, wenn die Maßnahme regulär beendet wird. Selbst bei den ohnehin vergleichsweise Wenigen, die wirklich was ändern wollen. Und vor allem: Kaum einer, der seine erste Therapie antritt, hat eine echte Ahnung, was ihn erwartet - und auf was es wirklich ankommt. Ging mir damals genauso. Ich habe 2008 zum ersten Mal Hilfe gesucht - und ich war allen Ernstes davon überzeugt, dass ich jetzt zur Entgiftung (ambulant in der Tagesklinik!) gehe, und danach muss ich nichts mehr konsumieren und alles wird wieder gut. Heißt ja schließlich Entgiftung. Und überhaupt war ich ja sowieso nicht vergleichbar mit diesen ganzen Junkies. Nach sieben Jahren täglichen Benzo-Konsums und einem Jahr Heroin i. v. - da sind ja schließlich Ärzte, und die werden mir helfen. Hat nicht so gut geklappt.

Jetzt arbeitet es in mir: Hätte ich zu Beginn meiner Therapielaufbahn jemanden zur Seite stehen gehabt, der mir geholfen hätte, mich zu orientieren, mich aufgeklärt hätte, was es tatsächlich bedeutet, abhängig zu sein, mir anhand seiner eigenen Erfahrung hätte helfen können, den vor mir liegenden Weg richtig einzuschätzen - dann hätte ich mir möglicherweise die Hälfte meiner Therapiezeit sparen können. Und der Rentenversicherung einen Haufen Geld.

Es gibt den § 29 SGB IX, der eine Finanzierungsmöglichkeit für eine entsprechende Leistung bieten könnte. Also einen Ex-User in die Lage versetzen könnte, begleitend tätig zu werden von dem Moment an, wenn ein Klient sich entscheidet, auf Therapie gehen zu wollen bis zum Antritt der Maßnahme. Oder auch schon vorher. Das Konzept bietet zahlreiche Möglichkeiten, die sich mit "persönliches Therapie-Coaching" vielleicht ganz brauchbar beschreiben lassen. Es geht im Kern um Information, Motivation und Begleitung in der kritischen Phase von der Entgiftung bis zum Therapiebeginn. Möglicherweise auch noch Begleitung der eigentlichen Therapie in Zusammenarbeit mit der Einrichtung und hinterher bedarfsgerechter Nachsorge mit persönlichem Zuschnitt. Quasi: Dein persönlicher Ex-User hilft dir durch den Therapie-Dschungel.

Meine Frage: Wie seht Ihr das Thema? Ich meine damit alles: Therapie, so wie sie ist - Mängel im Therapiesystem - Verbesserungsmöglichkeiten. Wo liegt Eurer Ansicht nach der Hase im Pfeffer? Oder seid Ihr zufrieden, mit dem wie es ist?

Und: Wie steht Ihr zur Begleitung durch Ex-User? Hättet Ihr sowas in Anspruch genommen, seinerzeit, vor der ersten Thera - oder könntet Ihr Euch vorstellen, sowas zu probieren, wenn Ihr selbst mit dem Gedanken spielt, Therapie zu machen?

Bitte versteht den Post nicht als Werbung.
So ist er nicht gemeint. Ich stecke mit dem Konzept in der Ideenphase und brauche gute Argumente gegenüber den Kostenträgern, um überhaupt an einen Testlauf denken zu können. Dafür würde ich mich echt freuen über kompetenten Input.

Vielen Dank und viele Grüße!
 
Moderator



dabei seit 2012
2.806 Forenbeiträge

  Geschrieben: 01.11.20 09:58
zuletzt geändert: 01.11.20 10:12 durch Pharmer (insgesamt 3 mal geändert)
Tut mir leid dass ich dir erst jetzt antworte - habe den Post schon am 26ten gesehen, aber hatte so viel zu tun dass ich keine Zeit für eine ausführliche Antwort hatte.

Also: Dass die Erfolgsquote von stationären Therapien - nett ausgedrückt - nicht gerade überwältigend ist, ist ja weder neue Erkenntnis noch ein Geheimnis. Ich habe 3 stationäre Therapien hinter mir und überall wurde mir die niedrige Erfolgsquote zusammen mit der Schlussfolgerung "Therapie ist kein Selbstläufer - es kommt hauptsächlich auf deine eigene Initiative an" klar vermittelt. Allerdings sollte man die Leute die eigentlich nichts ändern wollen gleich mal aus der Gleichung herausnehmen, denn denen kann imho niemand helfen ohne dass bei ihnen selbst ein Umdenken erfolgt. Wer sich nicht ändern will wird sich erfolgreich gegen alle Hilfsversuche wehren können, auch gegen solche von einem Konzept wie du es im Sinn hast.

Allerdings sollten wir vielleicht erstmal darüber reden, ab wann eine Therapie denn eigentlich als "erfolgreich" bewertet wird. So rein auf dem Papier gelten da nämlich Voraussetzungen, die gleich mal eine erste, wichtige Erklärung für die niedrigen Erfolgszahlen liefert.
Offiziell wird eine Therapie als erfolgreich bewertet, wenn die Patienten bei einer Befragung, die üblicherweise 1 (manchmal 2) Jahr(e) nach Beendigung der Therapie gemacht wird, angeben immernoch völlig abstinent zu sein. Selbst jemand, der wahrheitsgemäß angibt zu besonderen Gelegenheiten mal ein Bier zu trinken, wird nicht als abstinent gewertet.
Hinzu kommt dass die Mehrheit der Patienten auf diese Befragung garnicht reagieren - normalerweise hinterlässt man dazu in der Therapieeinrichtung eine Adresse, an die dann der Fragebogen geschickt wird, oder eine Aufforderung die Befragung online zu beantworten. Nur wissen Leute bei der Entlassung aus der Therapie sehr häufig nicht wo sie in einem Jahr wohnen werden, und davon abgesehen sind Menschen halt einfach faul - es besteht keinerlei Notwendigkeit diesen Fragebogen auszufüllen und zurückzuschicken, also machens viele einfach nicht; ganz unabhängig davon ob sie nun clean sind oder nicht.
Alle die auf die Befragung nicht antworten, werden automatisch als rückfällig gewertet und gehen so in die "nicht erfolgreich"-Statistik mit ein.

So sieht man schonmal dass eine Menge der negativen Zahlen lediglich durch Bürokratie und fragwürdige Voraussetzungen entstehen.
Denn nun sollte man sich vielleicht mal die Frage stellen - ist eine Therapie wirklich nur dann erfolgreich gewesen, wenn der Patient danach völlig abstinent bleibt? Liegt da der einzig mögliche Erfolg einer Therapie? Ich würde mal klar behaupten, nein!

Jo, ich hab 3 Therapien gebraucht um an einen Punkt zu gelangen, an dem ich wirklich aus rein freiem Willen keine Drogen mehr nehme. Aber die 2 ersten Therapien waren trotzdem erfolgreich, jedenfalls für mich selbst. Nach jeder dieser Therapien habe ich deutliche, bleibende Fortschritte in ganz vielen verschiedenen Aspekten gemacht. Von meinem Selbstwertgefühl, meiner Belastungsfähigkeit, meinem Verantwortungsbewusstsein über so viele andere Bereiche dass ich sie unmöglich alle aufzählen könnte; nach jeder Therapie war es um diese Aspekte besser bestellt als zuvor. Nach jeder Therapie lief sogar mein Konsum etwas kontrollierter und zurückhaltender als davor. Nach jeder Therapie habe ich zwar langsame, aber wichtige Schritte für ein erfolgreiches Berufsleben gemacht - und dieser berufliche Erfolg ist in meinen Augen der Hauptgrund für meinen Erfolg in Sachen Abstinenz. Denn siehe da, nichtmehr gezwungen zu sein Berufe auszuüben die mir nicht gefallen haben und in der Lage zu sein meinen Interessen zu folgen hat meine Depressionen und viele meiner psychischen Probleme nahezu vollständig beseitigt.
Man glaubt oft selbst nicht, wie simpel die Lösungen für die eigenen Probleme sein können, weil die "Symptome" meist wesentlich komplexer als die "Krankheit" sind.

Mir gehen jetzt noch vielerlei andere positive Argumente für stationäre Therapien durch den Kopf, aber letztendlich dient das sowieso nur dazu eine simple Aussage zu machen:
Klar, Therapie ist nicht perfekt - aber sie ist keinesfalls Zeit- oder Geldverschwendung. Die offiziellen Zahlen lassen Therapie schlechter dastehen als sie tatsächlich ist, aber selbst wenn das nicht so wäre, ist sie trotzdem ein unersetzbarer Teil unseres Gesundheitssystems. Ich würde behaupten dass Therapie grundsätzlich für niemanden jemals völlige Zeitverschwendung ist - außer man gibt sich selbst größte Mühe, den Therapieerfolg zu verhindern. Wer sich auch tatsächlich therapieren lässt und dabei mitarbeitet, hat grundsätzlich nichts dabei zu verlieren, nur zu gewinnen.


Nun zu deinem Konzept - du hast es eigentlich ja selbst schon angedeutet; letztendlich könnte es höchstens eine unterstützende Rolle einnehmen. Sie kann keinesfalls als vollständiger Ersatz für eine stationäre Therapie funktionieren, denn diese beiden Dinge sind einfach grundverschieden. Du kannst, egal wie kompetent und ambitioniert du auch bist, sehr viele Dinge nicht bieten, die zu einer stationären Therapie zwangsläufig dazugehören.
Ich weiß mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, dass du mir nicht hättest helfen können. Es gab schon damals nichts wirklich neues das du mir hättest erzählen können, was in irgendeiner Weise hilfreich für mich gewesen wäre. Dass ich nicht wusste was mich in der Therapie erwartet war gut so, denn vielleicht wäre ich von manchem abgeschreckt gewesen und hätte sie garnicht erst gemacht - denn gerade die Dinge die einem am besten helfen können wirken oft erstmal abschreckend. Ich würde behaupten, das eigene Leben umzukrempeln klingt immer erstmal abschreckend, aber später ist man froh diesen Mut aufgebracht zu haben. Und der Kern einer erfolgreichen Therapie ist eben, das eigene Leben bedeutend zu verändern.

Grundsätzlich ist es sicher eine Idee, die manchem eine zusätzliche Stütze bieten könnte. Aber letztendlich kannst du nicht wirklich mehr machen als ein Stützrad zu sein, das entweder für eine Therapie motiviert und auf sie vorbereitet, oder nach einer Therapie als zusätzliche Barriere gegen einen erneuten Absturz fungiert. Und ich befürchte sogar, dass du mit deiner Haltung gegenüber Therapie Manchem schaden könntest, indem du Leute davon abschreckst denen man dort eigentlich hätte helfen können.

Insofern, auf den Punkt gebracht: Mach das ruhig, ich denke schon dass es positive Aspekte haben und Manchem wirklich helfen kann. Aber du solltest garnicht erst damit anfangen es als vollwertige Alternative zu einer Therapie zu sehen, und du solltest sehr vorsichtig & dir deiner Verantwortung bewusst sein, wenn du Leute bezüglich Therapien berätst.
Half the fun is learning!
Traumländer



dabei seit 2019
247 Forenbeiträge

  Geschrieben: 03.11.20 14:49
Wollt dir mal ein Kompliment für deine Beiträge da lassen Pharmer. Das Thema hat zwar für mich keine Relevanz aber dein Text war dennoch sehr interessant zu lesen. Gibt nicht viele, die qualitative Informationen so klar ausdrücken und wohl strukturiert verpacken können. Man merkt, dass da ordentlich Brain und interessante Ansichten dahinterstecken.

Musste mal gesagt werden ;)
 

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