Langzeit-Berichte lesen

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Titel:Warnzeichen erkennen und handeln
Droge:Cannabis
Autor:aculaone
Datum:17.04.2006 00:45
Nützlichkeit:8,69 von 10 möglichen   (54 Stimmen abgegeben)

Bericht::

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Moinsen!



Alle, die das hier lesen, haben wahrscheinlich schon mal THC konsumiert. Es gilt als die harmloseste aller Drogen. Viele, mit denen ich gesprochen habe, vergleichen es mit Alkohol.



So ziemlich jeder, der das hier liest, hat auch schonmal was geraucht, nehme ich an.

Daher will ich auch nicht die Wirkung beschreiben.



Es geht mir mehr darum, den kleinen Prozentsatz an Menschen anzusprechen, denen es so oder so ähnlich geht wie mir.

Lies einfach den Bericht, und wenn dir was bekannt vorkommt, weißt du, was ich meine.

Ich habe das zentrale Problem übrigens fett markiert. Wenn dich das Drumrum und der Anfang nicht interessiert, scroll einfach runter.



Ich habe vier Jahre geraucht - aber das reicht bei meiner psychischen Konstitution.



Angefangen hat’s mit fünfzehn (heute in ich Sechsundzwanzig), dass ein Kumpel mal eine harmlose Tüte angebracht hat, in einer Freistunde.

Es war sehr lustig, aber nicht, weil ich viel gespürt hatte, sondern der Reiz des Verbotenen.

Das Gefühl, im Unterricht zu sitzen und zu denken: "Ich weiß was, was ihr nicht wisst. Ich habe etwas getan, was ihr nicht kennt."



Ab da habe ich öfter mal eine Tüte mitgeraucht. Es war auch immer sehr lustig. Ich habe alles mitgemacht: die Lachflash, Laberflash, Fressflash - alles was man sich vorstellen kann.



Erst war es mal an einem Wochenende eine Tüte, dann öfter auch mal unter der Woche.

Erst habe ich nur mitgeraucht, dann habe ich auch mal selbst gekauft.



Bei meinen Checkern - in einem Abbruchhaus voller Asozialer, Junkies und Punks - habe ich die Bong für mich entdeckt.

Mit wenger Dope einen dickeren Kick - darauf hatte ich nur gewartet.



Am Anfang bin ich noch auf Parties gegangen, aber irgendwann habe ich mich immer mehr zurückgezogen und nur noch in der Ecke gesessen und nachgedacht.



Und mit dem Nachdenken kamen auch die negativen Gedanken ("keiner mag mich") und die unlösbaren Fragen ("warum hat Gott mich geschaffen?").



Erst hatte ich einen ziemlich großen Freundeskreis, mit mehr oder weniger engen Freunden. Ich hatte einen ziemlichen Schlag bei Frauen, und fast alle paar Wochen eine Freundin. Nicht sehr reif, gebe ich zu, aber lehrreich wink.



Mit zunehmendem Kiffen habe ich mich immer mehr von meinen alten - auch den engeren - Freunden abgenabelt und mich immer mehr nur mit meinen Kifferkumpels getroffen.



Ich gebe zu, es war eine lustige Zeit. Wir haben viel gelabert, auch über Gefühle und pseudo-Philosophisches. Wir haben viel gelacht und unseren Müttern die Kühlschränke leergefressen. Wir haben Ausflüge ins Grüne gemacht und nach Holland - aber alles nur bekifft oder um zu Kiffen.



Und, wie viele andere schon geschrieben haben: Kiffen kann wahnsinnig lethargisch machen. Ich habe mich immer seltener gewaschen, immer weniger auf meine Klamotten geachtet, war unpünktlich, gedankenverloren, ziellos, und oft missmutig (nur durch den Gedanken ans nächste Köppi ein bisschen aufgeheitert). Vor allem habe ich meine Pflichten vernachlässigt: zu Hause habe ich schon immer nie was gemacht, aber auch die Schule hat gelitten. Immer seltener Hausaufgaben, immer öfter geschwänzt. Im zweiten Jahr ist es mir mehrmals passiert, dass ich nichtsahnend in die Klasse kam, und es hieß: heute ist die Klassenarbeit. eek Verpeilt halt und alles egal.



Objektiv gesehen will ich die Droge an sich nicht verteufeln. Es kommt immer auf den Konsumenten an. Ich hatte viel Spaß am Anfang und dass ich maßlos und so geworden bin, war halt Veranlagung. Ein Cousin von mir ist wahnsinnig aktiv, nett, fröhlich und ein toller Programmierer. Er hat sein Leben voll im Griff, obwohl er länger Kifft als ich.



Was ich aber betonen möchte: wer veranlagt ist wie ich es in der Pubertät war: depressiv und unsicher, suchend und ein wenig haltlos - den kann schon ein bisschen schlechter Shit tierisch runterziehen.



Mein wahres und wirkliches Problem war nämlich nicht der Lebensstil, der sich eingeschlichen hat. Mein wirkliches Problem wurde die Psychose: schizophrene Paranoia.



Ich hatte tierischen Verfolgungswahn. Es fing an, dass ich panische Angst hatte, meine Mutter könnte mich erwischen.

Dann hat es sich ausgeweitet auf die Bullen (wie lächerlich! Als ob die ein Kiffer interessieren würde rolleyes) und später hatte ich echte psycho-Filme: Außerirdische, die mich beobachten, Menschen, die meine Gedanken lesen wollen, Menschen, die mir Energie entziehen.



Das kam schleichend. Und obwohl ich das am Anfang immer nur hatte, wenn ich gekifft habe, habe ich die Verbindung nicht hergestellt.



Irgendwann hatte ich Angst vor allem und jedem und gleichzeitig eine Mordswut, weil ich mich ungerecht behandelt fühlte. Und dazu Depressionen.



Nach etwa einem Jahr habe ich es endlich kapiert und mit dem Kiffen aufgehört, aber es war schon zu spät: ich hatte die Psychose auch noch nach dem Kiffen.



Und das schreckliche ist ja, dass man nicht merkt. dass man eine Krankheit hat: Es kam mir als Wahrheit vor!!! Und ich traute mich nicht, mit jemandem zu sprechen, weil ich glaubte, dass alle sich verschworen hätten!



Als Ersatz für Kiffen fing ich mit Koks, Teilen, Tickets usw. an, aber zum Glück hatte ich großen Resapekt vor allen anderen Drogen, weil ich inzwischen wusste, was das "harmlose" kiffen anrichten konnte. Und außerdem hatte ich quasi (außer auf Teilen) immer nur den krassesten Horror. Und meine Kumpels hatten auch irgendwann keinen Bock mehr auf mich, weil ich sie ständig mit meiner Panik runtergezogen habe.



Wie bescheuert.

Nach einigen echt schweren Jahren ohne Drogen aber mit Psychose und immer wieder echt starken Schüben, die mich an allem zweifeln ließen, mit einem tollen Job und Eltern, die mir immer geholfen haben und neuen Freunden, mit denen ich auch ohne Alkohol Spaß hatte, habe ich nach und nach wieder in die Normalität zurückgefunden, bis ich letztes Jahr die Kraft hatte, zur Psychiaterin zu gehen.



Und die nickte nur verständnisvoll nach meiner Geschichte, verschrieb mir ein Medikament, und gegessen wars!!!!

Jahrelang gelitten, und meine Krankheit kann mit einer simplen Pille geheilt werden!! headbanging



Die Pille heißt übrigens Solian - der Wirkstoff heißt Amisulprid. Gibt’s in jeder Apotheke, ist aber verschreibungspflichtig.



Meine Psychaterin kannte die "Kiffer-Krankheit". Sie nannte meinen Zustand "nicht so schlimm und heilbar". Das mit dem "nicht so schlimm" sah ich zwar anders, aber dann hat sie mir erzählt, was für Typen bei ihr ambulant (also in der Geschlossenen) sitzen: einer, der glaubt, ihm lebten Insekten unter der Haut und der im wachen Zustand mit allem Verfügbaren seine Haut aufschlitzt, um die Viecher rauszulassen und noch krankere Fälle, die mir nicht einfallen.



Fazit: Kiffen kann gefährlich sein. Es muss nicht. Es kommt auf deinen Typ, auf deine Verfassung, deine Lebenseinstellung an. Wenn du gut drauf bist, bin ich der letzte, der das Kiffen verbietet.

Aber sobald du ein negatives Anzeichen bemerkst, also immer schlechter drauf bist, dich von anderen abnabelst, dauerhafte Angstgefühle hast oder schlechte Filme - hab den Mut und die Kraft, aufzuhören und Hilfe zu suchen.

Ich wünsche niemandem den Horror, den ich durchgemacht habe.



Alles Gute und viel Spaß!

AculaOne