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Titel:Tramadol - das Ende naht
Droge:Tramadol
Autor:Dreamcat
Datum:07.11.2010 13:35
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Bericht::

Liebe Mitglieder,



ich schreibe heute hier, weil das Ende naht. Nein, noch bin ich nicht tot, ich meine das Ende meiner Medikamentensucht. Nächsten Donnerstag habe ich einen Termin in der Suchtklinik, und ich freue mich darauf wie verrückt. Endlich ein tramadolfreies Leben – und ich bin sicher, dass ich es schaffen werde.



Mit diesem Beitrag möchte ich alle Tramadol-Abhängigen und solche, die es noch werden wollen, warnen. Nach vier Monaten oder zwei Jahren ist das vielleicht alles noch witzig. Ich nehme das Teufelszeug seit nunmehr 12 Jahren, und das ist nicht mehr witzig. Es ist erschreckend, was mit einem passiert.



Ich war schon immer anfällig für Pillen, die eine schöne Welt schaffen. Mit 15, heute bin ich 45, waren es Peracon Hustentabletten. 12 Stück, und das Universum war in Ordnung. Ältere unter Euch erinnern sich bestimmt noch daran. Dann kamen Nedolon Codeintabletten, damals noch nicht BTM. Man hatte ja solche Schmerzen während der Periode. Es ging weiter mit Antiadipositum X112, einem Appetitzügler, der neben Gewichtsabnahme durch unterdrücktes Hungergefühls noch eine stark aufpeppende Wirkung hatte.



Im Jahr 1998, da war ich 33, starb mein Mann, meine große Liebe, an Knochenkrebs. Wir kannten uns erst seit vier Jahren, waren zwei Jahre lang verheiratet. Wir waren Seelenverwandte, wenn ich ihn ansah, glaubte ich in einen Spiegel zu schauen. Ich bin mitgestorben, anders kann man es wirklich nicht ausdrücken. Hätte er nicht eine kleine Tochter gehabt, die eines Tages von ihrem Vater erfahren sollte, wäre ich auf der Autobahn vor einen Brückenpfeiler gerast. Totsicher. Aber so musste ich mich anders betäuben. Mein Mann hatte von einem nachlässigen Arzt große Mengen Morphin bekommen. Mit der Dosis, die nach seinem Tod übrig war, hätte man eine Großfamilie ausrotten können. So kam ich auf MST. Irgendwann waren die aufgebraucht und ich kümmerte mich um die restlichen Tramadol-Flaschen. Das Zeug packte mich in watteweiche Wolken, ich war einfach nicht mehr da. Die Wirkungsweise haben meine Vorschreiber ja treffend beschrieben, das brauche ich also nicht zu wiederholen. So gingen drei, vier Jahre ins Land, das T. besorgte ich mir inzwischen auf anderen Wegen. Als ich so langsam aus meinem Trauma erwachte, musste ich feststellen, dass ich im nächsten Alptraum gefangen war. Ich konnte nicht mehr ohne. Also nahm ich es munter weiter und musste über die Jahre hinweg die Dosis stetig erhöhen. Seit etwa zwei Jahren dröhnt es überhaupt nicht mehr, ich nehme es nur, damit ich so leben kann wie andere Menschen auch. Ich fühle mich, abgesehen von den multiplen Nebenwirkungen, ziemlich normal, und außer meiner besten Freundin weiß niemand von der Sucht, selbst mein Partner nicht. Die Idee, mal langsam komplett aufzuhören, kam mir aber nur halbherzig in den Sinn – wie hier jemand so schön schrieb: „Ich nehme es, weil ich es eben nehme“.



Seit ca. einem Jahr bahnt sich aber eine Katastrophe an. Klar, Nebenwirkungen waren schon immer da, aber mittlerweile sind sie angsteinflößend. Ich habe Dauerkopfschmerzen, es vergeht kein Tag ohne, ich habe mindestens 1x pro Woche Migräneattacken, muss bei meiner jetzigen Dosis permanent kotzen, habe Herzrasen, einen Ruhepuls von 120, schwitze wie ein Schwein, bekomme schlecht Luft und bin bei der kleinsten Anstrengung außer Atem. Ich würde am liebsten nur noch schlafen, bin antriebslos und mir geht es einfach nur scheiße, als ob ich eine starke Grippe habe. Ich habe Verdauungsstörungen, sprich Verstopfung, da geht nur noch was mit Laktulose. Außerdem kann ich nur pinkeln, wenn die Blase übervoll ist. Der ganze Trakt da unten ist wie gelähmt, die Libido ist ebenfalls ziemlich lahmgelegt. Ich hatte zwei epileptische Krampfanfälle mit minutenlangem Zucken und Ohnmacht. Ich habe Durchschlafstörungen, ich denke, ich habe keine Tiefschlafphasen mehr. Wache jede Nacht zwischen drei und sechs Mal auf. Ich kriege nichts geregelt und mache nur das Notwendigste. Ich kann nicht mehr richtig sehen, auch mit richtig eingestellter Brille nicht, kann kein Buch mehr lesen, die Buchstaben verschwimmen zu einer einzigen Matsche. Wenn ich am Rechner etwas schreibe, muss ich die Vergrößerung auf 150 Prozent einstellen. Mein Gedächtnis ist praktisch nicht mehr vorhanden. Ich kann mich nicht daran erinnern, welche Filme ich in der letzten Zeit gesehen, und wenn ich sie nochmal sehe, kann ich mich nicht an deren Inhalt erinnern. Die Erkenntnis zu meinem Entschluss, dass es jetzt genug ist, fand neulich bei Ikea statt. Ich hatte drei Wochen lang an drei großen Rosina-Wachtmeister-Puzzles herumgetüftelt. Bei Ikea kam ich zufällig in der Rahmen-Abteilung vorbei und sah diverse knallbunte Rahmen. Ach, dachte ich, die würden aber gut passen, welchen Rahmen nimmst Du denn jetzt für welches Puzzle? Ich stand da und versuchte mich an die Motive der Puzzles zu erinnern, die ich schließlich drei Wochen ständig vor Augen hatte – es gelang mir nicht. Da habe ich richtig Angst bekommen. Wie viele Gehirnzellen sind bei mir wohl schon abgestorben? Verblöde ich langsam? Ich war nie dumm, ich bin selbstständig und habe ein Buch geschrieben. Heute verfasse ich noch Kurzgeschichten für Zeitschriften, aber ich muss manchmal sehr lange nach den richtigen Worten suchen, erinnere mich nicht an Redewendungen oder an spezifische Begriffe für irgendwelche gängigen Sachen.



Noch zu den Mengen, die ich konsumiere. Ich brauche, um einigermaßen „normal“ leben zu können (wobei „normal“ bei meinen Nebenwirkungen wie ein Witz klingt), zwei Flaschen a 100 ml Tramadol in der Woche. Ich zähle keine Tropfen, ich nehme einen ordentlichen Schluck aus der Pulle. 2 x 100 ml sind also 200 ml pro Woche, fast 30 ml am Tag. 30 ml sind eine mittelgroße Flasche. Auf der Flasche steht: 1 ml Lösung, entspricht 40 Tropfen, enthält 100 mg Tramadolhydrochlorid. Ich nehme 30 ml, entspricht also 1.200 Tropfen oder 3.000 mg. Mein Gott, ist das wahr? Ich kriege gerade einen Schock. Ich kann nicht gut rechnen, stimmt das vielleicht hoffentlich nicht? Ich fürchte, es stimmt doch. Meine Güte… 3000 mg. Das sind 3 g, oder? Umso mehr freue ich mich auf den Termin in der Suchtklinik! Wenn das Zeug erst mal aus mir raus ist, weiß ich genau, dass ich es mit Sicherheit nie mehr in mich reinlassen werde.



Ich möchte mit diesem Bericht alle ansprechen, die noch nicht so lange auf T. sind. Du wirst zum Wrack! Ich habe mich psychisch ganz gut gehalten, aber körperlich… Der Witz ist, dass ich regelmäßig zum Arzt gehe und Checks und Bluttests machen lasse, und ich habe nichts! Nieren, Leber ok, Blutdruck auch (ich gehe morgens nüchtern und nehme auch am Vorabend nur wenig), sämtliche Blutwerte sind im grünen Bereich. Das gibt mir die Hoffnung, dass zumindest der Körper noch nicht zerstört ist. Das Gehirn hat aber eindeutig einen Schlag weg. Ich hoffe, das lässt sich wieder korrigieren. Ich werde viele Denkspiele machen (hier fehlt mir jetzt auch wieder das passende Wort; absolvieren, ausüben, erledigen, vollführen? – und das als Schriftstellerin…), wenn ich aus der Klinik raus bin. Bitte lasst es nicht so weit kommen und macht beizeiten einen Cut. Es gibt in jeder halbwegs großen Stadt eine Suchtklinik, in der man einen sanften Entzug machen kann! Geht rechtzeitig hin! Darum bitte ich Euch, und dafür soll dieser Bericht sein.



Liebe Grüße



Dreamcat