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Titel:Die Faszination der Wasserminze
Drogen:Psilocybinhaltige Pilze
Autor:bastitinki
Datum:08.09.2020 10:48
Set:Wandern im Wald mit einem vertrauten Freund
Setting:Fröhlich, zufrieden, ruhig
Nützlichkeit:Mindestanzahl an Bewertungen noch nicht erreicht
Status:Dieser Bericht wurde aus den Tripbericht-Listen entfernt. Er ist jedoch noch für alle lesbar.

Bericht:

Trip am 12.08.2020

Die Faszination der Wasserminze


Zu Set und Setting: Ich bin 25 Jahre alt und im Moment sehr zufrieden mit meinem Leben. Vor knapp einem Jahr habe ich geheiratet, wir wohnen zusammen in einer kleinen Wohnung und es läuft sehr gut. Ich studiere Chemie/Spanisch auf Lehramt und Ende August habe ich meine letzte Klausur für dieses Semester. Ich habe bereits eine Struktur für die Vorbereitung ausgearbeitet, am Seminar immer aktiv teilgenommen und bin zuversichtlich, was die Prüfung angeht. Nächstes Jahr im Sommer werde ich voraussichtlich mein Studium beenden. Es sind Semesterferien, weshalb ich kaum verbindliche Termine habe. Auch am Tag des Trips hatte ich keine Verpflichtungen. Meine Vorerfahrungen mit Psychedelika belaufen sich auf drei Pilztrips und drei LSD-Trips, die ich in Abständen mehrerer Monate in fünf Jahren unternommen habe. Aus meiner Erfahrung hat sich herauskristallisiert, dass es besonders günstig ist, das Halluzinogen morgens einzunehmen und den Tag wandernd mit wenigen aber langen Pausen in der Natur zu verbringen. Triptoys, wie etwa A3-Blätter und Wasserfarben oder ein Schreibblock, haben sich bewährt, weshalb ich diesmal meine Ukulele mitnahm. Vor etwa einem Monat begann ich, Ukulele zu spielen. Roberto, mein Trippartner, ist ein langjähriger Freund, mit dem ich bereits viel erlebt und auch schon einmal getrippt habe. Robert kommt aus Nicaragua und seine Muttersprache ist Spanisch. Wir unterhalten uns auf Deutsch oder Spanisch. Er ist ein fähiger Musiker, ein wahrer Gott an der Gitarre. Wir haben einen Deal vereinbart, demzufolge ich ihm Deutschunterricht gebe und er mir im Austausch Ukuleleunterricht erteilt.

Wir trafen uns um 10:00 im Stadtzentrum der kleinen Großstadt in der Mitte Deutschlands, in der wir leben. Roberto sagte, dass er nicht gefrühstückt hatte, und fragte, ob es in Ordnung sei, dass wir erst einmal etwas zu essen einkaufen. Natürlich willigte ich ein. Bald hatte er seine Brötchen verspeist und wir machten uns auf den Weg ins Grüne. Nach 15 Minuten Fußweg gelangten wir zu einem Wegweiser, der den Einstieg für mehrere Wanderungen bietet. Außerdem steht dort ein Zitat von Alexander Humboldt, der hier wohl Bittersalz (Magnesiumsulfat) gesammelt haben muss. Das Zitat kann ich nur teilweise aus der Erinnerung rekonstruieren: „So manch schöne Dinge habe ich in Jena gesehen, die meine Augen und mein Gemüt beeindruckt haben. Darunter war die Diebeskrippe, in deren blättrigem Gips ich Bittersalz gesammelt habe.“

Am Einstieg der Wanderung ragte zu unserer linken ein gewaltiger Felshang empor, an dem tatsächlich viele weiße Linien ausgemacht werden können. Nähert man sich diesen weißen Linien an, merkt man, dass es Salz ist, das durch Reiben mit dem Finger abgelöst werden kann. Es schmeckt, wer hätte es gedacht, bitter! Ebenfalls am Fuße des Felshangs entspringt eine Quelle und stehen mehrere Sitzbänke. Hier hatte ich vor, die Pilze einzunehmen, doch ein Mann füllte sich eine Wasserflasche an der Quelle auf, wusch sich das Gesicht und schien nicht so schnell den Ort verlassen zu wollen. Daher passierten wir den Mann und betraten den Wanderweg. Wir liefen nun auf einem schmalen Weg steil nach oben, links und rechts von uns standen junge Bäume. Nach der ersten Biegung blieb ich stehen und schlug vor, die Pilze einzunehmen. Zum Zeitpunkt der Einnahme war es 11:05. Den Geschmack der magischen Pilze hatte ich deutlich unangenehmer in Erinnerung, sie waren beinahe schon lecker. Etwas staubig und alt, aber mit einer nussigen und leicht sauren Note. Kauen, runterschlucken, nachspülen. Weiterlaufen. Nach wenigen Schritten mussten wir rechts abbiegen und gelangten in eine wohlhabende Wohngegend, in der riesige Einfamilienhäuser stehen. Jedes mit Garten und Garage. Jedes von ihnen böte wahrscheinlich zehn Personen Obdach, wird aber wohl eher nur von drei bis fünf bewohnt. Der Wöllnitzer Oberweg war der Weg, der uns zur Diebeskrippe führen würde. Bald ließen wir die Luxusgegend hinter uns und betraten eine Wiese, in deren Hintergrund die thüringer Hügel die Landschaft schmückten. Ich fühlte bereits erste Effekte, die sich in einem Gefühl der Leichtigkeit und einem angedeuteten Kribbeln in der Magengegend manifestierten. Außerdem zog ich unwillkürlich die Mundwinkel nach oben.

Auf der Wiese erinnerte ich mich an den LSD-Trip, den ich zusammen mit Roberto, Ala, Nicolás und Rolf unternommen hatte. Damals waren wir spontan am Fürstenbrunnen gelandet, was am heutigen Tag unser bewusst gesetztes Ziel war. Wir liefen weiter nach oben und waren in der Natur angekommen. Wurzeln wuchsen über den Weg und wir trafen den ersten Wegweiser an. Nach links ging es zur Oberen Horizontale, geradeaus zur Diebeskrippe. Einige weitere Ziele wurden angezeigt, an die ich mich nicht mehr erinnere. Kurz nach dem Wegweiser schlängelte sich der Weg nach oben. Im Schutz der Bäume blieben wir vor der brennenden Sonne verschont. Die Blätter anblickend, es muss um 11:30 gewesen sein, machten sich die ersten subtilen visuellen Effekte bemerkbar. Ein leichter Anflug von morphenden Blättern.

Wir hielten einen Moment inne, um durchzuatmen und Wasser zu trinken. Ich empfand den Geschmack von Eisen auf meiner Zunge. Das Bild, das sich mir bot, beeindruckte mich: In der Mitte des Bildes sah ich den Weg, an dessen von mir am weitesten entfernten Teil sich provisorisch gebaute Holzstufen befanden. Der Weg war relativ gerade und machte nach hinten einen Schlenker nach rechts, bevor er im Wald verschwand. Der Schlenker nach rechts war etwa 15 Meter von mir entfernt. Rechts von mir war ein Loch im Wald, hinter dem eine üppige Wiese wucherte, auf der man einige Blumen sehen konnte, aber hauptsächlich hohes Gras. Zu meiner Linken sah ich vor allem junge Bäume mit oberschenkeldicken Stämmen und wenige ältere, die höher waren und sich auf mächtigere Stämme stützten. Sowohl links vom Weg als auch rechts vom Weg bewegte sich das Bild, als betrachtete ich ein Gemälde auf einer Leinwand, die leichte rhythmische Wellenbewegungen ausführt. Rechts vor mir schien es einen Bereich des Waldes zu geben, das sich immer ein Stück gegen den Uhrzeigersinn zu mir hindrehte und wieder im Uhrzeigersinn von mir wegdrehte. Links des Weges gab es einen Bereich, der sich genau gegenläufig zu dieser Drehbewegung verhielt. Immer, wenn der Bereich rechts vor mir sich im Uhrzeigersinn von mir wegdrehte, drehte sich der Bereich links vor mir im Uhrzeigersinn zu mir hin. Wenn sich der Bereich rechts vor mir wieder gegen den Uhrzeigersinn zu mir hindrehte, drehte sich der Bereich links vor mir gegen den Uhrzeigersinn weg von mir. Ich sagte zu Roberto, dass sich mein Blickfeld verändert hätte. Es fällt mir schwer, diese Wahrnehmung zu beschreiben. Zusätzlich zu den Bewegungen des Gesehenen hatte ich das Gefühl, dass sich das Bild als Ganzes verändert hatte. Allerdings nicht das Bild an sich, sondern dessen Rand, die Bildgrenze. Ich hatte das Gefühl, dass das Bild, das ich normalerweise sah, eine andere Form hatte als das, was ich in diesem Moment sah. Als ob ich normalerweise ein rundes und nun plötzlich ein ovales Sichtfeld hätte. Ich fühlte mich ölig, was auch immer das bedeutete.

Wir liefen ein Stück weiter bis zu dem Wegschlenker und ich versuchte, Roberto meine Empfindung anhand eines Baumes zu erklären, der vor uns stand, was mir nicht recht gelang. Roberto sagte mir, er fühle noch nicht so intensive Effekte wie ich. Während ich die Tore der Wahrnehmung langsam öffnete, klopfte er noch an. Er schilderte mir, dass er sich leicht schwindlig und hibbelig fühlte. Wir setzten unseren Weg fort. Das Laufen auf dem weichen Erdboden war sehr angenehm und immer wieder offenbarte sich uns der Blick auf die Häuser der Stadt zu unserer Rechten, die schon weit weg war. Die anfängliche Leichtigkeit wich einer Schwere, die ich in Beinen und Rumpf empfand und Roberto sagte mir, dass er jetzt auf einmal wieder den Geschmack der Pilze auf der Zunge habe. Nach einer Weile führte der Weg etwas bergab an den verrottenden Resten eines vor langer Zeit gefällten Baumstammes vorbei. In dem Baumstamm waren Linien, die einer Schrift ähnelten, aber von Maden stammen, die das Holz fressen. Neben diesem Baumstamm betrachtete ich meine Hände, die mir fremd vorkamen. Der Schweiß fühlte sich wie ein Ölfilm an. Dieser Eindruck, zusammen mit dem Eisengeschmack, begleitet mich bei allen psychedelischen Reisen seit dem ersten LSD-Trip. Mir wurde klar, dass ich im Vergleich zur Größe meines Handtellers lange Finger habe. Der Ehering an meiner linken Hand löste eine Reaktion in mir aus, die ich selbst nicht verstand. Einerseits wusste ich, dass der Ehering ein Fremdkörper ist, Schmuck, den ich aufgesetzt hatte und der nicht Teil meiner Hand ist. Andererseits fühlte der Ring sich dort natürlich an, als ob es ganz selbstverständlich wäre, sich einen Goldring auf den Finger zu stecken. Die ständige Bewegung des Bildes, die typisch für den Pilzrausch ist, wurde intensiver. Beim tiefen Einatmen schien der Wald mitzuatmen. Ich atmete bei geschlossenen Augen tief ein und aus, wobei sich die gemusterte Schwärze, die ich dabei „sehe“, mitausdehnt. Es muss zu diesem Zeitpunkt etwa 11:40 gewesen sein.

Wir brachen aus dem Wald heraus und gingen einen Weg entlang, der den Sonnenstrahlen schutzlos ausgesetzt war. Zu unserer Linken erstreckte sich ein nackter, gestufter Kalkhang steil nach oben, der nur karg bewachsen war. Dornige Sträucher und intensiv duftende Nadelbäume verliehen der Landschaft etwas Mediterranes. Zu unserer Rechten wuchsen Laubbäume, Büsche und Sträucher den Hang hinab, deren Blätter von der Sonne durchleuchtet eine gelbe Farbe annahmen. Wir bekamen die Hitze nun wieder deutlich zu spüren, während die Sonne auf uns herabbrannte. Einige hundert Meter weiter kamen wir zum nächsten Wegweiser, der uns bestätigte, dass wir kurz vor der Diebeskrippe waren. Unserem ersten Zwischenziel auf dem Weg zum Fürstenbrunnen. Ich kenne diesen Ort und er ist mir lieb. Den Schildern dort zufolge handelt es sich um einen nicht abgeschlossenen Erdrutsch. Ich bin kein Geologe, aber ich habe Fantasie. Hinter uns bemerkte ich ein älteres Paar, dessen Anwesenheit mich beunruhigte. Es formte sich der Gedanke, sie vorbeizulassen, dem ich gleich wieder mit dem Zweifel, dass wir sie bald einholen würden, widersprach. Zu unserer Linken war noch immer die senkrechte Kalkwand, neu waren die riesigen Felsen zu unserer Rechten. Diese Felsen mussten Wegelagerern als Versteck und Überfallort gedient hatten, dachte ich mir. Daher der Name: Diebeskrippe. Sandino schien meine Gedanken zu lesen und schlug vor, hier die erste längere Pause einzulegen. So konnten wir das ältere Pärchen an uns vorbeilassen. Zu unserer Rechten machten wir inmitten der gewaltigen Felsen einen gut erreichbaren, großen Stein aus, der sich als Sitzgelegenheit anbot. Dort legten wir unsere Rucksäcke und ich meine Ukulele ab.

Ich fühlte mich erleichtert und genoss vor allem die Bewegungsfreiheit meiner rechten Schulter, die ich durch das Ablegen der Ukulele gewonnen hatte. Gegenüber unseres Sitzsteines fielen mit gelbliche Linien im Fels auf, die die Oberfläche des Hangs mit Mustern verzierten. Die Alten liefen an uns vorbei, der Mann sah uns zunächst nur aus dem Augenwinkel an. Ich grüßte ihn, worauf er den Kopf drehte und zurückgrüßte. Die Frau murmelte etwas Unverständliches und hatte den Blick auf den Boden gerichtet. Als die beiden verschwunden waren, überkam mich ein starker Bewegungsdrang und Spieltrieb. Ich begebe mich zum gegenüberliegenden Hang, um ihn hochzuklettern. Der Hang, der weiter oben beinahe senkrecht ist, ist in seinem unteren Teil ein leicht bezwingbarer, aber doch steiler Anstieg, für dessen letzte Meter ich alle vier Gliedmaßen einsetzen musste. Am höchsten Punkt dieser sandigen Schräge, im Übergang zwischen ihr und dem Felshang, wuchsen zwei Bäume, an denen ich mich festhielt. Ohne sie wäre es sehr anstrengend gewesen, mich dort oben zu halten, doch um den Baum geklammert konnte ich mit dem ganzen Körper nach links und rechts schwingen, was ich sehr genoss. Ich blickte nach oben den Fels entlang und entdeckte wieder die gelben Linien, die den Fels mit Mustern verzierten. Der Baumstamm, an dem ich mich festhielt, fühlte sich vertraut an. Ich fühlte mich geborgen, als wäre ich ein Kind, das den Arm oder das Bein eines vertrauten Erwachsenen umarmt oder als umarmte ich einen alten Freund. Ich fühlte mich durch und durch zufrieden. Es war keine oberflächliche Euphorie, keine hysterische Freude, wie sie durch ein Erfolgserlebnis oder Alkohol hervorgerufen wird. Vielmehr war ich stolz auf mich selbst, löste mich restlos im Moment auf und es wurde mir bewusst, wie schön mein Leben ist. Ich dachte an meine Frau und an unsere Wohnung, ich dachte an meinen Bruder, meine Eltern und an meine guten Freunde. Ich dachte an mein Studium und an meine fantastischen Nebenjobs an der Uni und im Science Center. Der Gedanke an meine Ukulele mischte sich in mein angenehmes Schwelgen und ich rauschte die sandige Schräge wieder hinunter und schnappte mir das Instrument.

Roberto saß mit geschlossenen Augen an einem Baum. Auf mich machte das den Eindruck, als ob er lieber seine Ruhe haben wollte. Das nahm ich an und verzog mich in eine Felsspalte. In dieser Felsspalte wurde mir bewusst, wie still es war. Ich hörte die Vögel zwitschern und hörte das ferne Rauschen der Autobahn, aber ansonsten war es still. Mir schien, als konnte ich im Blättergeraschel Geräusche einzelner Blätter heraushören. Ich bestaunte den Efeu, der an einer Stelle dicht den Boden bedeckte und einen Baum abschnürte. Der Felsblock, der die rechte Wand der Felsspalte darstellte, hatte einen tiefen Riss, der ein längliches zur Wand paralleles Stück isolierte. Mein Blick wanderte zum Fels, der die linke Wand darstellte und ich wand mich dem Zwischenraum zwischen ihm und der gewaltigen Bergwand zu seiner linken zu. Dort stand ein weiterer von Efeu befallener Baum, an dem außerdem direkt übereinander zwei Pilze wuchsen, die mich schon im Frühjahr dort beeindruckt hatten. Im Frühjahr waren diese Pilze in der Blüte ihres Lebens gewesen, hatten überall in der Umgebung orange-gelbe Sporen verteilt und ein Sekret abgesondert, das zwei Insektenarten anlockte, von denen eine die andere jagte. Ich erinnerte mich daran, wie ich damals ein Video gemacht und meinem Bruder, der Biologie studiert, geschickt hatte. Mittlerweile war der obere Pilz schwarz, schlaff und verfault. Nur an seiner Unterseite befanden sich die hellen Sporen seines Unterpilzes. Um den unteren Pilz waren noch immer die gelb-orangenen Sporen auf dem Efeu verteilt, der die Rinde des Baumes bedeckte. Es gab sogar ein Blatt des Efeus, das mit dem unteren Pilz zu verschmelzen schien und abgestorben war. Es war über und über mit den Sporen überzogen und war wohl in ihnen ertrunken. Ich fühlte mich wohl an diesem Ort und empfand Gefühle der Vertrautheit, Geborgenheit und Heimat.

Ein großer, verkohlter Ast auf dem Boden und viele andere kleine Kohlestücke zeugten davon, dass hier einmal Feuer gemacht worden war. Die bröckelige Kalkwand entblößte kleine Steine, die sich leicht herausziehen ließen wie lockere Zähne. Ich lächelte vor Glück. Ich zog einige kleine Stücke heraus, rieb sie an der Wand und begann Ukulele zu spielen. Was meine Musizierkünste anging, stand ich noch ganz am Anfang und beherrsche demensprechend nur eine Handvoll Akkorde. Ich hatte allerdings schon mehrere Anschlagsrhythmen gelernt und kombinierte nun A Moll, A und F mit einem reggaertigen Anschlagsrhythmus und rappte vor mich hin. Dabei sang ich auch, was normalerweise eher untypisch für mich ist. Es fühlte sich richtig und natürlich an und kam spontan aus mir raus. Es fühlte sich eher so an, als würde ich gesungen und nicht, als ob ich aktiv sänge. Nicht immer waren es Sätze, die ich sang, sondern auch einfach nur „JaJaaaa, O-oo-ooooo“. Teilweise summte ich leidenschaftlich, was meine gute Laune weiter beflügelte. Ich fühlte mich dabei frei und ungebunden und war im Bewusstsein, keinerlei Regeln befolgen zu müssen. Ich musizierte nicht, um ein bestimmtes Lied zu reproduzieren, sondern einzig und allein für meine eigene Unterhaltung. Die einzigen Regeln, an die ich mich hielt, waren die Akkorde und Anschlagsmuster. Ich war eine Blüte, die im Moment aufging, war eine Larve im Moment ihrer Metamorphose. Ich befand mich in ständigem Wandel, was sich gut anfühlte. Ich spielte noch eine Weile weiter, während die Zeit wie im Flug verging und entschied dann, wieder nach Roberto zu sehen. Diesen traf ich bei unseren Rucksäcken ohne T-Shirt an.

Ich war froh und erleichtert, ihn nicht mehr meditieren zu sehen. Ich hatte vorhin den Eindruck gehabt, dass der Beginn des Trips ihm schwer zu schaffen machte und als ich ihn nun so sah und er mir auf meine Frage, wie es ihm ging, „Wunderbar!“ antwortete, wusste ich, dass er seine anfänglichen Schwierigkeiten überwunden hatte. Ich nahm einen Schluck Wasser und sah meine Äpfel an. Ich bot ihm einen an. Er lehnte ab. Ich wollte eigentlich auch keinen und steckte ihn wieder zurück in den Rucksack. Ich wollte mir den Baum ansehen, an dem Roberto gesessen hatte und stieg auf den breiten, einen Meter erhöhten Grat, der die Diebeskrippe vom Abhang den Berg hinunter trennte. Hier stand ein Fels, der sich dem Abgrund entgegenneigte. Aufgrund seiner Neigung konnte ich mich, halb auf ihn legend, an ihn stützen. Von dort aus bestaunte ich den von Sonne übergossenen Wald des gegenüberliegenden Hügels, auf dessen unterem Drittel Streuobst- und Viehwiesen lagen und warf ab und zu einen Blick auf die Gebäude der Stadt, die sich etwas weiter rechts in meinem Blickfeld befanden. Auch der Schornstein der Stadtwerke, der Wasserdampf und Kohlenstoffdioxid in die Luft bläst, befand sich unter ihnen. Ich verfolgte mit dem Blick das Tal, in dem die Stadt liegt, das sich auf beiden Seiten des gegenüberliegenden Hügels in die Länge zieht. Weit rechts hinten hinter der Stadt sah ich das weit entfernte andere Ende des Tals, auf dem sich wiederum Streuobst- und Viehwiesen befanden.

Am Horizont drehten sich die grünen Windräder. Ich zerrieb minutenlang mit den Händen einige kleine Kalksteine, von denen unzählige vor mir auf meinem Fels lagen, bis ein feines Pulver zurückblieb. Einen von den Steinen benutzte ich, um auf den Fels zu kritzeln. Aus dem Hintergrund fragte Roberto mich rufend, ob er die Ukulele benutzen dürfe. Ich bejahte, woraufhin eine angenehme Geräuschkulisse die Umgebung füllte. Eine Wurzel, die in dem steinernen Block wuchs, beeindruckte mich. Sie erinnerte mich an die kleinen Ahornbäume, die zwischen den Schienen der Straßenbahn wachsen. Der Ausblick faszinierte mich, doch was mich wirklich überwältigte, war ein Phänomen, das sich in meinem Inneren abspielte: Ständig brach ich das Audio, das ich aufnahm, um diesen Bericht schreiben zu können, ab. Ich wurde aber nicht etwa durch andere Gedanken unterbrochen, sondern vielmehr durch eine wortlose Leere. Meine Gedanken, mein innerer Monolog, der normalerweise sprachlich ist, war es in diesem Moment nicht mehr. Es war ein bloßes Gefühl, ein reines Dasein, ein Mit-mir-selbst-eins-sein, das sämtliche Gedanken verdrängte. Das Sprechen war mir unnützes Geschwätz. Wozu Sprechen? Wozu reden, wenn man fühlen kann? Wozu reden, wenn man sein kann? Ich war. Ich war nicht wütend, erschöpft, konzentriert oder beeindruckt. Ich war nicht ich oder jemand anders, ich war nicht ein Bürger oder ein Mann oder eine Person, war nicht ein Lehrer, nicht ein Bruder und auch nicht ein Freund. Ich war. Was ich empfand, war die ungetrübte Existenz. Ich war und die Welt war und so wie alles war, war es gut. Ich wurde zu meinem Gefühl. Ich war die Sonne auf meiner Haut und war der Wind in meinen Haaren. Was zuvor meine Identität, mein Charakter, meine Einstellungen gewesen waren, war nun restlos ausgefüllt durch diesen Moment. Das ganze Leben war der Moment. Es gab kein Leben außerhalb dieses Moments und alles Abstrakte, das sich außerhalb dieses Moments befand und nicht unmittelbar wahrnehmbar war, wurde irrelevant. Nichts schien von irgendeiner Bedeutung, was nicht Teil dieses Moments war. Die Ukulele verstummte und ich kehrte zu Roberto zurück. Ich schlug vor, weiterzugehen und Roberto willigte ein. Ich sammelte die Ukulelentasche auf, die noch bei dem großen Felsen in der Nähe der beiden Pilze lag. Es machte mir Spaß, dorthin und wieder zurückzurennen. Wir begannen wieder zu laufen. Das fühlte sich gut an. Die Nadelbäume verströmten einen Duft und der Ausblick nach rechts war sehr schön. Nach kurzer Zeit kamen wir an einer Bank vorbei, die wir passierten. Roberto erzählte mir, dass er beim Eintreten in den Trip ein gewisses Unwohlsein empfunden hatte, nun aber froh und heil angekommen war.

Wir tauschten uns über unseren Rausch aus und kamen zu der Überzeugung, dass wir am Plateau angekommen sein mussten. Es war 12:40. Bei jedem Schritt machte mein Rucksack ein Geräusch, was ihn mir sympathisch machte. Ich fühlte meinem Rucksack und meiner Ukulele gegenüber als wären sie treue Gefährten. Plötzlich knatterte etwas und zu unserer Rechten war ein Insekt mit roten Flügeln zu sehen. Ich machte Robert darauf aufmerksam und erklärte ihm, was das für ein Tier war. „Saltamontes“ heißt Grashüpfer auf Spanisch. Das Tier war eine kaffeebraune Heuschrecke. Mit einem Ast stupste ich sie sanft an, um die erstaunlicherweise rot leuchtenden Flügel noch einmal zu sehen und mich zu versichern, dass seine Flügel die Quelle des knatternden Geräuschs waren. Wir sprachen darüber, dass die Natur wohl der größte Schatz des Lebens sei. Ich sagte, dass ich meinen Kindern gerne die Faszination für die Natur weitergeben würde. Ich stellte mir vor, mit ihnen zu wandern. Ein Stück weiter hielt mich Roberto an, um mich auf eine Nadeltraube einer Kiefer aufmerksam zu machen. Er meinte, die sphärische Anordnung der Nadeln erinnere ihn an die Federn eines männlichen Pfaus. Während ich die Nadeln ansah und Roberto aus dem Augenwinkel wahrnahm, meinte ich, sein Kinn als ein grotesk langgezogenes und hakenförmiges Comic-Kinn, wie etwa das der Daltons aus Lucky Luke, zu erkennen. Außerdem verbanden sich sein Mund und seine Nase zu einem Schnabel. Diesen Effekt konnte ich nur beobachten, wenn ich Roberto aus dem Augenwinkel betrachtete. Wenn ich ihn direkt ansah, sah ich nur die üblichen, angedeuteten hellen Flecken, die sein Gesicht ein bisschen wie eine Maske anmuten lassen und mich auf halluzinogenen Trips nicht mehr überraschen. Ich teilte diese meine Halluzinationen mit Roberto, was ihn köstlich amüsierte. Er erzählte mir, dass „El pajarito“ in seinem Dorf sein Spitzname gewesen war. Im Weitergehen übten wir die Aussprache von Kiefer, Kiffer und Käfer. Roberto erzählte aus seiner Kindheit und Jugend, die er mit seinen Freunden draußen verbracht hat. Er sprach davon, dass in Nicaragua jedes Stück Land einen Besitzer habe und man deshalb kaum durch die Natur ziehen kann. Außerdem hinge dem Spielen in der Natur ein schlechter Ruf nach. Der Weg wurde schmaler und führte an einer Felswand entlang. Links von uns war eine steile Wand, rechts von uns der Abgrund. Die Vorstellung, hier einem rasenden Mountainbikefahrer zu begegnen, verursachte ein mulmiges Gefühl in meinem Magen. Wir trafen ein wanderndes Paar in unserem Alter, die uns freundlich den Weg freimachten, indem sie sich an den Hang stellten und uns durchließen. Ich begrüßte sie und bedankte mich. Sie lächelten zurück.

Am Himmel war ein Segelflugzeug zu sehen, das von einem Motorflugzeug gezogen wurde. Wahrscheinlich hatte das Motorflugzeug das Segelflugzeug angezogen und in die Luft gehoben und würde sich bald auf den Heimweg machen. Ich erinnerte mich an den Freund meiner Mutter, der auch in hohem Alter noch begeisterter Segelflugzeugpilot ist.
Um 13:00 hielt mich Roberto an einer Wegbiegung an. Er sah einen Baum an und ihm ging ein Licht auf. Er seufzte, als ob ihm auf einmal etwas klar würde. Er wies auf den Boden und erklärte dessen bronzenen Farbton mit der Anwesenheit dieses Baumes. Der Baum hatte einen großen Teil seiner Borke nicht mehr und ich fasste seinen blanken Stamm an. Ich zweifelte kurz, ob er überhaupt noch lebte und entferne mich einen Schritt, um seine grünen Nadeln zu sehen. Ich konnte nicht erkennen, was Roberto meint. Der Boden erscheint mir hier nicht roter als vor hundert Metern. Er ist von Nadeln bedeckt, hier und dort liegt ein Kiefernzapfen. Ich kam zu dem Schluss, dass man nicht immer alles nachvollziehen kann, was die anderen denken und gab Roberto Recht, ohne ihn zu verstehen. Ich bemerke einen Jogger hinter uns und bewege mich an den Wegrand, um ihm Platz zu machen. Der Jogger trug ein Fußballtrikot mit senkrechten rot-weißen Streifen, eine Sonnenbrille und hatte bunte Kopfhörer. Er sah uns weder an noch sagte er etwas zu uns. Nachdem er an uns vorbeigejoggt war, dauerte es keine fünf Minuten, bis er uns wieder entgegenkam. Philipp nannte Roberto ihn wegen des Schriftzugs auf seinem Trikot. Wir lachten noch mehrere Minuten über Philipp. Besonders, dass er nichts gesagt hatte, amüsierte mich. Unser Lachen verstärkte sich gegenseitig. Robertos Lachen brachte mich zum Lachen und umgekehrt. Wieder blieben wir an einem Nadelbaum stehen. Mich fasziniert die weiche Borke, die aus vielen kleinen Plättchen besteht und sich leicht ablösen lässt. Roberto merkte an, dass die Plättchen zwischen meinen Fingern wie Federn aussähen. Es drängte sich mir das Bild eines Vogels in einem Nadelbaumborkenfederkleid auf. Von der Konifere stiegen wir rasch ab und der Fürstenbrunnen war in spürbarer Nähe.


Um 13:10 waren wir an einem Wegweiser angekommen, der bereits nach Fürstenbrunnen roch. Ein älteres Paar stand hier und beriet sich. Wir liefen an ihnen vorbei, ohne den Wegweiser befragen zu müssen. Hier waren wir tief im Wald und gewaltige Buchen säumten den Weg, deren mächtige Stämme beeindruckende Höhen erreichten.
Kurz vor der Quelle befanden sich vier Bänke und zwei Tische. An einem Tisch saßen drei Generationen einer Familie und vesperten dort. Ich lief an der Familie vorbei und dachte darüber nach, ob sie mich wohl grüßen wollten. Sie erwiderten meinen Blick in der ganzen Zeit, die ich an den Bänken vorbeilief, nicht. Also ging ich, ohne zu grüßen hinüber zur Quelle, um meine Wasserflasche aufzufüllen. Ich spritzte mir kaltes Quellwasser in Gesicht und Nacken, nahm mit meiner Hand ein paar Schlucke und beobachtete, wie Roberto sich die Sandalen auszog. Sich die Schuhe auszuziehen erschien mir eine fantastische Idee und ich tat es ihm gleich. Barfuß ging ich ein paar Schritte den Wasserlauf entlang, bis zu einem Ort, wo Pflanzen das flache Wasser durchwucherten. Ein paar Meter weiter hinten verwandelte sich das von der Quelle fließende Wasser in einen breiten Weiher, in dem Schilf wuchs. Ich sah einen braunen kleinen Frosch. Bestimmt heißt der Waldfrosch oder Laubfrosch oder irgendwie so, dachte ich mir. Ich war mir sicher, dass dieser Frosch ein typischer Bewohner des mitteleuropäischen Waldes war. Er sprang mit seinen muskulösen Hinterbeinen in weiten Sprüngen vor mir davon. Sandino, der nun hinter mir stand, bekam ihn auch noch zu sehen. Ich drehte mich um und sah die beiden Alten, die sich vor Kurzem an dem Wegweiser nicht entscheiden konnten, an der Quelle stehen. Entweder sahen sie uns an oder in unsere Richtung. Ich fragte mich in diesem Moment, wie es wohl von ihrem Standpunkt oder den Bänken aus aussehen mussten, dass zwei Männer barfuß im Wasser standen und ins Grüne blickten, wo doch gar nichts zu sein schien. Ich stellte mir auch vor, dass die Familie um unseren Rausch wusste und ihre Kinder vor uns schützen wollte, doch kam zu dem Schluss, dass es für sie das Beste wäre, unseren Rausch, wenn sie denn von ihm wüssten, gar nicht zu erwähnen, da die Kinder es wohl nicht bemerken würden. Ich fand, dass es Zeit war, weiterzugehen und sagte das auch Roberto, weshalb wir die fünfzehn Meter durchs flache, eiskalte Wasser platschten. Ich nahm meine Schuhe in die Hand und sagte zu Roberto, dass ich ihm noch die andere Quelle zeigen wollte. Ich hatte dabei das Gefühl, dass der Alte, der dort immer noch stand, mich interessiert ansah, erwiderte seinen Blick aber erst, als ich fertiggesprochen hatte.

Wir verließen den Fürstenbrunnen, um dem Weg einige hundert Meter weiter zu folgen. Ich war mir nicht mehr sicher, wo der Ort war, den ich Roberto zeigen wollte. Ich war mir allerdings sicher, dass er hier in der Nähe sein musste. Roberto machte die Stelle aus, an der ein unscheinbarer Trampelpfad nach rechts ins Dickicht führte. Zunächst bewegten wir uns vorsichtig eine rutschige, lehmige Böschung hinab. Als das geschafft war, offenbarte sich uns ein beeindruckender Anblick. Weiter unten sah man ein überflutetes Gebiet, dessen Boden mit Moos bedeckt war, das wie ein Teppich erschien. Es leuchtete hellgrün und sah aus, als ob man darauf schlafen könnte. Hohes Schilf und verschiedene Gräser wuchsen dort. Viele, krautige und hohe Pflanzen unterschieden diese wasserreiche Landschaft vom restlichen Wald, und doch waren wir so nahe am Weg, keine hundert Meter Luftlinie von der essenden Familie entfernt. Es schien, als wären wir durch ein Tor in eine andere Welt gelangt.


Hier waren zwei Dinge, zwei Orte, zwei Phänomene, die ich Roberto zeigen wollte. Ich war vor zwei Wochen bereits hier gewesen, doch Roberto hatte oben am Weg gewartet. Nach der ersten steilen Böschung konnte man nach links weiter absteigen und sich dem überfluteten Bereich nähern. Dort war ein horizontales Loch in der steilen Wand der Böschung, über dem ein Baum wuchs. Des Baumes Wurzeln gingen links und rechts an dem Loch vorbei und rahmten es so ein. In dem Loch entsprang kristallklares Wasser. Man konnte die Wellen des Wassers sehen und das Plätschern des frischen Quellwassers hören. Genau hier hatte ich vor zwei Wochen auch einen braunen Waldfrosch gesehen. Dieser Ort übte eine Anziehung auf mich aus, ich stellte mich barfuß in das nasse Moos vor das Loch. Dabei stand ich sehr breit, sodass unter mir das frische Wasser entlanglief, das das moosige Paradies überflutete. Roberto rutschte auf dem Weg einmal aus, doch ihm passierte nichts. Schnell war er bei mir angekommen und öffnete den Mund vor Erstaunen. Eine Weile noch starrte ich in die Quelle unter dem Baum, bevor ich ihm Platz machte. Ich wollte die Faszination dieses Anblicks mit ihm teilen. Er stellte sich dorthin und staunte, machte Videos und Fotos. Ich dachte mir, dass man mit Fotos niemals die Wahrnehmung eines Ortes einfangen könne. Es ist nicht nur, dass man den großen Bildausschnitt unserer Augen und die Beweglichkeit unserer Sicht nicht in einem statischen Bild einfangen kann. Dazu kommt, dass Emotionen, Stimmung und Gedanken, Assoziationen und Körpergefühl den Moment und somit das authentische Bild mitbestimmen. Roberto begann zu lachen und meinte, der Baum pinkle. Ich fand das eher ein bisschen albern, doch seine Freude belustigte mich und ich stimmte in sein Lachen mit ein. Währenddessen genoss ich den Anblick des saftig-grünen Moosteppichs im überfluteten Weiher. Ich kündigte Roberto an, dass das erst der Anfang gewesen sei. Dass ich ihm noch etwas viel Beeindruckenderes zeigen wollte. Ich verspürte zweierlei Vorfreude. Zum einen, weil ich mich selbst freute, an diesen zweiten, noch viel magischeren Ort zurückzukommen und zum zweiten, weil ich auf Robertos Gesicht gespannt war. Ein paar Meter weiter auf dem lehmigen Boden mit dem pinkelnden Baum im Rücken überquerten wir einen schmalen Weg, auf dem ich ausrutschte und beinahe hinfiel. Ich bildete mir ein, dass es meine langjährige Judoerfahrung war, die mir half, das Gleichgewicht doch noch zu behalten. Vor uns ging es nun rechts steil nach oben, doch ich ging weiter geradeaus. Hinter diesem steilen, lehmigen Hang schnitt sich eine Vertiefung in den Berg. Sie war unser Ziel. Uns dem Wunder annähernd, wurde das leise und fein verteilte Plätschern langsam hörbar. Als ich bereits etwas sehen konnte, sagte ich zu Roberto, dass ich gerne sein Gesicht sehen würde, wenn er hierherkäme. Ich zog mir die Schuhe aus und lief durch das flache Wasser, das sich hier sammelte.

Als Roberto in die Vertiefung trat, fiel ihm die Kinnlade hinunter. Genauso war es mir auch ergangen, als ich diesen Anblick zum ersten Mal genossen hatte und ich konnte perfekt nachvollziehen, wie er sich gerade fühlen musste. Die Bewunderung und das Erstaunen, das ich bei diesem Anblick empfand, müssen meine Wahrnehmung des Ortes geprägt haben, weshalb der Leser wohl nur enttäuscht werden kann. Wir befanden uns direkt vor einer Art kleinem Wasserfall. Allerdings war es kein gebündelter Strom, der einen Abhang hinunterfiel, sondern eine einen Meter breite und einen halben Meter hohe Wölbung, die sich auf Kopfhöhe befand und aus der an hunderten Stellen langsam Wasser heraustropfte. Die ganze Wölbung war über und über mit Moos bewachsen. Es ließen sich zwei Moose unterscheiden.

Durch das Tropfen, das wohl schon tausende Jahre vonstattenging, hatten sich oben an der Wölbung Stalaktiten gebildet, von denen einige leicht abzubrechen waren. Sie bestanden aus einer Mischung aus Sand und Lehm. Unter der Wölbung flogen unzählige Fliegen wild umher. Dort, wo die tausend Tropfen aufschlugen, hatten sich im Laufe der Zeit Mineralien angesammelt, die nun als große, grünblaue Felsen den Stalaktiten entgegenwuchsen.
Dadurch, dass es an so vielen Stellen tropfte, gelangten stattliche Mengen Wasser in das Becken, das sich unter der Wölbung gebildet hatte. Hier sammelte sich das Wasser, bevor es als kleiner Bach die überflutete Schilflandschaft und deren Moosteppich mit Leben versorgte. Wir standen vor der tropfenden, moosbewachsenen Wölbung und sahen abwechselnd uns gegenseitig und den Tropfenfall an. Nach ein paar Versuchen, das Gesehene zu beschreiben, einigten wir uns darauf, dass wortlose Begeisterung die angemessenste Reaktion war. Sandino dankte mir gerührt dafür, dass ich ihm diesen Ort gezeigt hatte. Wir liefen eine Weile barfuß durch das kalte Wasser, einige Mücken stachen mich und ich merkte das erste Mal, dass ich der klaren und scharfen Nüchternheit näher war als dem ölig-fließenden Rausch. Ich folgte dem Bach ein paar Schritte Richtung Schilfgegend, wo ich rote Algen am Bachufer sah und Roberto rief. Einige Momente sahen wir die Algen fasziniert an. Danach war mir, als ob wir das Spannendste nun gesehen hätten. Ich sah mich nach einem Ort um, an dem wir uns hinsetzen und unsere Sachen legen könnten. Der Ort an der Spitze des etwa acht Meter hohen Lehmhangs schien sich anzubieten, da es dort eben und grün war. In dem Lehmhang, der etwa um 45° geneigt war, befanden sich einige große Kerben, die das Hochsteigen erleichterten. Hier oben konnten wir uns auf eine dicke Wurzel setzen und unsere Rucksäcke ablegen. Von hier konnten wir den Tropfenfall von oben sehen. Mir fielen die Vögel auf, die unauffällig im Wald zwitscherten.

Es war weniger so, dass ich einzelne Geräusche ausmachen und Orten zuordnen konnten, eher so, als ob die Geräuschkulisse Teil des Ortes, Teil des Moments war. Gleichzeitig nahm ich das Tropfen und Plätschern war, weshalb ich mich zur Metapher eines Waldkonzerts hinreißen ließ. Roberto stimmte zu. Wir aßen und teilten dabei, was wir mitgebracht hatten. Roberto hatte Bier, Reiswaffeln und Thunfisch und ich ein paar geschmierte Brote, Bananen und Äpfel. Freudig nahm ich mein Lieblingsbier, das 0,33 Tannenzäpfle von Rothaus entgegen und wir stießen an. Worauf, das weiß ich nicht mehr. Nach dem Essen rauchten wir eine Zigarette. Anschließend ging ich pinkeln. Als ich zurückkam, war Roberto auf Erkundungstour gegangen. Er befand sich an dem mir gegenüberliegenden und mit Blick auf den Tropfenfall links gelegenen Hang. Mich interessierte, was sich auf der Ebene befand und wand der Wölbung den Rücken zu. Zunächst offenbarte sich mir eine kleine, selbstgebaute Holzbrücke, die über den Bachlauf führte, der schließlich in der Tropfenwölbung endete. Von hier aus ging ich weiter zu einem Tümpel, in dem hohes Schilf wuchs. Der Tümpel verengte sich zu dem Bach, den ich gerade überquert hatte. An dieser Engen Stelle stand ich, als ein verfaulender Birkenstamm meine Aufmerksamkeit erregte. Das verrottende Holz hatte eine Farbe wie Kork und sah aus wie ein Schwamm. Ich brach ein Stück aus dem Stamm. Es fühlte sich an wie spröde Knete. Ich zerdrückte und zerrieb es zwischen meinen Fingern.

Eine handtellergroße, grünblaue Libelle flog vorbei. Plötzlich hörte ich etwas knirschen. Ich hörte, dass das Geräusch vom anderen Ufer des Baches kam, in den sich der Weiher verjüngte und lauschte weiter. Dort befand sich ein umgefallener Baum, dessen Verrottung noch nicht ganz so weit fortgeschritten war wie die desjenigen, dessen Korkholz ich gerade eben noch in den Händen hielt. Es knackte, knirschte und kratzte, als ich in Richtung des Geräuschs durch das flache Wasser watete, wobei ich schwarzen Schlamm zwischen meinen Zehen spürte. Es klang nach einem Tier, das an dem Baumstamm nagte. Doch welches Tier frisst Holz? Biber? Die sind selten, dachte ich mir, das wird bestimmt kein Biber sein. Fressen Mäuse etwa Holz? Mir fiel kein überzeugendes Tier ein. Ich wollte es herausfinden und pirschte mich langsam an. Ich tat einen Schritt, wobei das knirschende Nagen kurz verstummte. Ich wartete, bis ich das Nagen wieder hören konnte. Erst war es schüchtern und leise zu vernehmen, kurz darauf schwoll es an, bis es wieder energisch und deutlich hörbar war. Das war mein Signal für den nächsten Schritt. Stille. Warten. Noch ein Schritt. Als ich kurz vor dem Baumstamm war, war das Nagen endgültig verstummt. Diesmal fing es auch nicht wieder von vorne an. Ich sah den Baumstamm an, der einen Meter vor mir beinahe waagerecht in der Luft hing. Zwei Meter links von mir stützte sich der abgebrochene Stamm auf einen Stumpf, dem er entsprang. Rechts von mir verschwand der Rest des Baumstamms im Unterholz. Ich fragte mich selbst, wie ich mir das überhaupt vorgestellt hatte. Wenn dort tatsächlich ein Tier das Holz fraß und ich es nicht sah, musste es sich wohl auf der Rückseite des Stamms befinden. Sobald ich nahe genug wäre, um das Tier zu berühren, würde es doch auf der Rückseite des Stamms davonhuschen, ohne dass ich es dabei zu sehen bekäme. Ich verwarf meine Idee, herauszufinden, welches Tier da zu Werke war und stieg über den Stumpf zu meiner Linken auf den Baumstamm. An dem Baumstamm wuchsen riesige Pilze, die weich aussahen, aber härter waren als der Baumstamm selbst.

Als ich ein Stück der fauligen Rinde abbrach, kamen Kellerasseln, ein kleiner Tausendfüßler und einige Maden zum Vorschein. Ich drehte mich um, um zu gehen. Die paar Schritte zurück zum Bach, anschließend watete ich wieder durch den Bach und als ich an der improvisierten Holzbrücke angekommen war, stand mir Roberto gegenüber. Ich wollte ihm zeigen, was ich gesehen hatte. Dort an dem faulenden Baumstamm hatte das knarzende Nagen wieder begonnen. Ich versicherte mich, dass ich mir das Geräusch nicht bloß eingebildet hatte indem ich Roberto fragte, der das Geräusch ebenfalls hören konnte. Wieder pirschte ich mich an. Diesmal, dachte ich, würde ich es anders machen. Wenn ich das Geräusch noch hörte, würde ich mich von der Unterseite her auf den Baumstamm stürzen, um das Tier zu überraschen und weghuschen zu sehen. Auch diesmal stellte ich mein Vorgehen in Frage. Würde das Tier nicht, wenn ich unter den Stamm sprünge, auf dessen Oberseite vor mir fliehen? Jedenfalls bekam ich es auch dieses Mal nicht zu Gesicht. Auch Roberto inspizierte den umgefallenen Baumstamm. Ich machte ihn auf die Pilze aufmerksam, die daran wuchsen und zeigte ihm das schwammige Holz des verrottenden Birkenstamms am Bachufer. Auch er staunte über die großen Libellen, von denen wir zwei bei der Paarung im Flug beobachten konnten. Roberto fand eine grüne Flasche, die auf dem Boden lag. Sie kam ihm unnatürlich vor. Ich kommentierte, dass das Glas so reaktionsträge sei, dass es für die Umwelt unbedenklich sei. Es sei wie ein Stein, der dort rumläge, verschmutze sie nicht wirklich, schade keinem Organismus. Doch Roberto empfand die Flasche dort als unnatürlich, was sie natürlich auch war und nahm sie mit.

Als wir uns auf den Rückweg machten, fiel mir eine Pflanze auf, die im schlammigen, flachen Wasser wuchs. Sie sah der Pfefferminze, die ich auf meinem Balkon stehen habe, ähnlich und ich hatte die Vermutung, dass es Wasserminze war. Zurecht heißt die Pflanze so, dachte ich mir und riss ein Blatt der Pflanze ab. Ich zerrieb es zwischen meinen Fingern und tatsächlich, der charakteristische Geruch verriet, dass es eine Minze sein musste. Immer noch etwas ungläubig ob meiner fantastischen Entdeckung probierte ich eines der Blätter, was wiederum meinen Verdacht bestätigte. Ich erzählte Sandino die paar Dinge, die ich über die Druiden wusste. Sie waren die Schamanen der Kelten, die religiöse und politische Macht ausübten. Sie führten kultische Rituale durch, aber planten auch diplomatische und kriegerische Vorgehen sowie Migrationen der lokalen Population. Die Druiden als Anhänger einer Naturreligion hatten heilige Pflanzen, unter diesen auch die Wasserminze. Ich wusste das alles, weil ich einmal Auszüge des Wikipedia-Artikels „Druide“ gelesen hatte. Sandino zeigte sich erstaunt über mein Wissen, doch ich gestand, dass ich die Wasserminze weniger wegen meines umfangreichen botanischen Wissens erkannt hätte, sondern eher deswegen, weil ich auf unserem Balkon zufälligerweise eine Pfefferminze stehen hatte, die ich wild wuchern ließ, um sie, wenn sie üppig genug wäre, zum Würzen und Teekochen benutzen wollte. Roberto nahm ein Minzchen für seine Freundin mit. Wir erkundeten einen Pfad, an dessen Rand ebenfalls Minze wuchs, deren Blätter allerdings länglicher waren als diejenigen der Wasserminze, die wir eben vorgefunden hatten. Schließlich merkten wir, dass wir wieder direkt am Fürstenbrunnen gelandet waren. Dort, wo die Bänke und Tische standen, an denen vorher noch eine Familie gevespert hatte.

Von der gefassten Quelle aus lief das Wasser in den Wald, bildete zuerst diesen schilfbewachsenen Weiher, bevor es sich weiter verjüngte zu einem Bach, der wiederum eine Böschung hinunterfloss und schließlich den Stalaktitentropfenfall hervorbrachte. Diese Erkenntnis versetzte mich in helle Freude. Es war so naheliegend, doch ich war davor nicht auf diese Idee gekommen. Es weckte dermaßen meine Neugier, dass ich auf dem Rückweg zu unserem Platz dem Wasserlauf folgte, wobei ich zweierlei fand, das mich überraschte und faszinierte: Erstens fand ich einen kleinen Stock im Wasser, das die Böschung herablief, der von einer mindestens einen Zentimeter dicken, rostbraunen Schicht ummantelt war. Die Farbe dieser Schicht machte mich vermuten, dass es sich um Eisenoxid handeln musste. Ich zerbrach den Stock und merkte dabei, dass sich die sandige und nasse Schicht leicht zerrieben ließ und dabei rotbraune Spuren an meinen Fingern hinterließ, was mich in meinem Glauben bestätigte. Indes sang Roberto ein Reggae-Lied und spielte dazu auf der Ukulele. Ich folgte dem Wasserlauf weiter und fand, was mich erstaunte, dass das Wasser einige Meter vor der Stalaktitentropfenwölbung versickerte. Ich war davon ausgegangen, dass das Wasser von oben über die Wölbung lief und an deren Ende heruntertropfte. Doch scheinbar sickerte das Wasser in den Boden und floss buchstäblich durch die Wölbung durch. Das Wasser, das fünf Meter weiter unten aus der Wölbung tropfte, kam also aus der Wölbung heraus. Mehrere Meter sich unter der Oberfläche bewegend konnte das mit Kohlenstoffdioxid angereicherte Wasser umso mehr Kalk lösen. Erst nach meinem Trip fand ich heraus, dass die grünblaue Farbe der Stalakmitfelsen dafür sprach, dass es sich dabei um Malachit, Kupferkarbonat, handelte, das sich in kohlensaurem Wasser wohl auch in geringen Mengen lösen würde. Ich stieg wieder hoch zu unserem Platz zum ukulelespielenden Roberto, der mir noch eine kleine Unterrichtseinheit gab. Er zeigte mir eine Technik, die er Slap nannte, bei der ich durch Entspannen der linken Hand die Saiten zum Verstummen brachte, was dazu führt, dass der Ton nur kurz zu hören ist. Diese Technik eignet sich gut, um Reggae oder Funk zu spielen. Nach der Ukulelestunde war es Zeit, zu gehen. Wir packten unsere Sachen und verließen den magischen Ort. Was zurückbleibt, ist die Faszination.