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Umfrage: Wie findet ihr den Gesetzesentwurf zur Legalisierung von Cannabis?
   (Gestartet: 04.03.2015 18:52 - zeitlich unbegrenzt)

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Abwesender Träumer



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  Geschrieben: 07.04.15 23:18
Incredere schrieb:
Das freie Mandat äußerst sich schon mal darin, dass jeder seine Partei frei wählen kann und er somit in einer Partei ist, deren Entscheidungen er ohnehin zu ü. 90% mittragen würde


Das würde ich zumindest mit dieser Zahl verneinen.
1. ändern sich Positionen einer Partei schon mal, auch in sehr zentralen, ehemals identitätskonsituierenden Fragen.
2. ändert sich auch die Meinung von Abgeordneten im Laufe ihres Lebens
3. gibt es auch innerhalb der Partei Flügel. Die unterscheiden sich normalerweise nicht in weniger als 10% ihrer Positionen, sondern liegen deutlich weiter auseinander.
4. tauchen im politischen Tagesgeschäft immer wieder Fragen auf, die einfach nicht vom Parteiprogramm erfasst werden, z.B. weil sie zu neu sind oder sich Rahmenbedingungen geändert haben oder weil es zu weit ins Detaill geht.
5. ist auch in Deutschland die Auswahl an Parteien zumindest für die Politiker, die Gehör finden wollen, begrenzt. So viele Optionen sind das dann auch wieder nicht. Allein dadurch ist es schon wahrscheinlich, dass jemand bei der Wahl seiner Partei bereits Kompromisse eingeht.

Auch, wenn in Deutschland der Politiker nicht als unabhängiger politischer Unternehmer gesehen wird wie im angelsächsischen Raum und auch, wenn die Rolle von Parteien als Element der politischen Willensbildung hierzulande sehr hervorgehoben wird, haben wir doch durch das Zweistimmensystem auch Elemente eines Mehrheitswahlrechts und den Versuch, die Vorteile der direkten Vertretung durch den "eigenen Abgeordneten" des Wahlbezirks in ein generell parteienorientiertes System einzubinden. Noch dazu hat es eben auch Verfassungsrang, das der Abgeordnete nur seinem Gewissen verpflichtet sein soll. In der politischen Praxis hebeln nahezu alle Parteien, und alle derzeit im Bundestag vertetenen, das in der Mehrheit der Abstimmungen aus und verwenden sehr viel Energie darauf, Abweichler auf Linie zu bringen, von vorauseilendem Gehorsam mal ganz abgesehen. Ich sehe das persönlich als hochproblematisch und auch jemand, der näher am Grundgesetz orientiert ist als ich, könnte da Schwierigkeiten sehen.

Mir ist natürlich klar, dass die Politikwissenschaft in Deutschland oft sehr staatstragend daherkommt. Persönlich ziehe ich erst mal einen deskriptiven Ansatz vor, der Vor- und Nachteile diverser Parteiensysteme möglichst unvoreingenommen erklärt. Und bilde mir auch gern eine eigene Meinung. Auch Parteien- und Wahlsysteme sind nicht sakrosankt. Die Neuseeländer haben z.B. irgendwann ihr Parteisystem als sehr dysfunktional empfunden und sich ein neues Wahlrecht gegeben (Mischung aus Mehrheits- und Verhältniswahlrecht, übrigens nach deutschem Vorbild, statt ihrem vorherigen first past the post nach englischer Manier) und hatten nach der nächsten Wahl dann wie gewollt eine völlig andere Parteienlandschaft, übrigens auch eine deutlich vielfältigere als in Deutschland. Wenn wir an den Punkt kommen, an dem die hiesige Form parlamentarischer Konsensdemokratie nicht weiter kommt, sollte man solche Optionen nicht direkt verbauen, nur weil man sich Ende der 1940er Jahre dagegen entschieden hat. Unsere politische Kultur wandelt sich, so wie das die politische Kultur in jeder Demokratie tut. Es lohnt sich, auch mal die Systeme anderer Länder wie der Schweiz oder Irland (single transferable vote, hochinteressantes Wahlverfahren mit sehr guter Repräsentation und hohem Stimmengewicht) anzusehen.
You know what a miracle is. Another world's intrusion into this one.
Where revolutions break out spontaneously and leaderless, and the soul's talent for consensus allows the masses to work together without effort, automatic as the body itself.
Abwesender Träumer



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  Geschrieben: 08.04.15 13:21
Hey,
1. & 2.: Das ist natürlich richtig, aber es ist wohl anzunehmen dass es zwischen diesen beiden Punkten einen kausalen Zusammenhang gibt und sich die Meinung der Partei ändert, da sich die Meinung der Mitglieder wandelt und dies ein neues aggregiertes Meinungsbild ergibt, das dann von der Partei vertreten wird. Somit sagt das überhaupt nichts darüber aus, ob die Mitglieder nun stärker oder weniger stark von der Parteimeinung abweichen, es ist durchaus denkbar und sogar wahrscheinlich, dass diese Entwicklungen sowohl auf Mikro- wie auch auf Makroebene parallel ablaufen. Die Programmatik einer Partei ist ja nichts weiter als die Zusammenfassung der Einzelmeinungen mit gewissen Schwerpunkten.

3. Diese Flügel gibt es durchaus, aber der Eindruck dass diese so weit von ihrer Partei wären täuscht leicht. Die Flügel sind häufig auf einzelne Programmatikpunkte spezialisiert, in denen sie sich von ihrer Partei unterscheiden und diese auch entsprechend vermehrt artikulieren. Das fällt dann natürlich schnell auf, während der ganze viel größere Konsens einfach unter den Tisch fällt, da dieser keinen Stoff für innerparteiliche Auseinandersetzungen bietet und daher auch nicht diskutiert werden muss. Ich denke es ist trotzdem legitim die von mir genannte Zahl von 90% in Frage zu stellen, das gilt ganz sicher nicht für alle Mitglieder, sondern ist eher als Schnitt zu verstehen, vielleicht ist es auch dafür noch etwas zu hoch angesetzt, genau lässt sich das wohl nicht sagen. Trotz allem bin ich überzeugt, dass der Konsens in der Politik ganz erheblich unterschätzt wird, das gilt auch für interparteiliche Programmatik, da die Medien eben fast ausschließlich Konflikte und Dissens vermitteln, da nur dieser die Leute interessiert (was auch völlig okay ist, ich muss auch wirklich nicht hören worüber sich alle Parteien schon wieder einig waren, das hat dann ja auch kaum gesellschaftliche Relevanz). Ich denke jedenfalls, dass der Konsens erheblich unterschätzt wird und die großen Differenzen die man zwischen Parteiflügeln hört, eben auch in erster Linie machtpolitisch zu verstehen sind um sich zu profilieren.

4. Wenn es keine konkrete Programmatik für ein Thema gibt, dann wird entweder auf allgemeine Prinzipien zurückgegriffen (in dem Fall gibt es keinen Grund anzunehmen, dass die einzelnen Abgeordneten diese Prinzipien nicht ebenso tendenziell vertreten wie die Partei) oder man fängt eben an die Leute die sich am ehesten mit der Thematik zusammen zu ziehen und eine Programmatik zu finden. Auch hier gibt es dann erst mal keinen Grund zur Annahme, warum ein verstärkter Dissens entstehen sollte, nur weil die Partei dafür bislang kein klares Programm hat.

5. In dem Punkt hast du natürlich recht. Hier gäbe es Beispiele für andere parlamentarische Demokratien, in denen es größere Parteispektren gäbe mit deutlich feineren Programmatikunterschieden. In Belgien, Schweiz, Israel, Finnland uvm. gibt es derzeit jeweils ü. 10 Parteien mit einem Sitz in dem jeweiligen Parlament, obwohl sämtliche dieser Parlamente erheblich kleiner sind als der deutsche Bundestag, selbstverständlich fällt es einem Abgeordneten auch dementsprechend leichter eine Partei mit Aussicht auf einen Abgeordnetenplatz zu finden, bei der er sich ideologisch gut aufgehoben fühlt. Wenn man in die Regierungskoalition möchte mag die Auswahl nochmal etwas enger sein, allerdings ist es in Ländern mit vielen kleinen Parteien auch oft so, dass entsprechend "kreative" Koalitionen aus vielen Parteien entstehen, bei denen auch mal Parteien mit wenigen Sitzen den Unterschied machen. Besonders interessant ist es in GB, wo nun auch bald wieder das Unterhaus gewählt wird, obwohl es recht viele britische Parteien gibt (in erster Linie aufgrund großer regionaler Unterschiede) wurde es lange Zeit so gesehen als sei man nur als Politiker der Labour-Partei oder der konservativen Tories in der Lage in die Regierung zu kommen aufgrund des Mehrheitswahlrechts. Dieses mal dürfte es durch UKIP und SNP aber ganz schön spannend werden und eine Koalition erscheint wahrscheinlich, was vor ein paar Jahren noch undenkbar war. Denn auch soetwas gehört zum Kalkül eines Politikers: Wer sich seine politische Karriere in einer Partei aufbaut, der sollte bedenken, dass sich Machtanteile erheblich verändern können. Es macht daher mehr Sinn in eine kleinere Partei zu gehen in der man großen Rückhalt und Aufstiegschancen hat und eines Tages mit dieser erfolgreich zu werden, als in einer großen Partei als politisch nicht tragbarer Außenseiter zu versauern und eines Tages vielleicht sogar mit der ganzen Partei abzustürzen. Das weiß jeder der in der Politik anfängt, in einem parlamentarischen System wird man in keiner Partei nach oben kommen, in der man nicht die aller meisten Entscheidungen auch mitträgt. Das dürfte erheblich schwerer wiegen als die Tatsache, dass man sich von kleinen Parteien keine Reagierungschance erhoffen kann, denn lieber ist man Spitzenkandidat einer kleinen Partei mit Abgeordnetensitz, als Außenseiter in einer großen Partei. Ich denke daher wirklich nicht, dass sich so viele Politiker "gezwungen" sehen in eine Partei einzutreten, die sie nicht auch angemessen vertreten können.

Ein parteienorientiertes System haben wir ohne Frage, womit ich auch sicherlich nicht wirklich glücklich bin. Die Erststimme ist nicht wirklich vergleichbar mit dem was man aus amerikanischen Verhältnissen kennt, denn die aller meisten Menschen wählen indem sie ihre Erststimme und ihre Zweitstimme der selben Partei geben, völlig ungeachtet dessen, welchen Kandidaten ihre Erststimme überhaupt betrifft. Stimmensplitting ist zwar tendenziell im Kommen in Deutschland, die Mehrheit macht sich darüber aber keine großen Gedanken und kennt ihre Kandidaten in der Regel auch überhaupt nicht namensmäßig. In Amerika ist der eigene Abgeordnete eine der größten Prominenzen des Distrikt und jeder kennt ihn, in manchen Vorwahlen ist es den Kandidaten sogar verboten ihre Parteiangehörigkeit anzugeben, damit die Wähler wirklich ausschließlich nach der Person gehen.
[edit: Nur falls du dich wunderst, dieser Abschnitt sollte dir auch bei Nichts widersprechen, wollte es nur erwähnen]

Allerdings muss auch gesagt werden, dass die Partei zwar Abweichler auf Linie zu bringen vermag, sofern diese denn wirklich existieren, allerdings ist dies eben auch nur dann möglich, wenn es Abweichler sind und kein größerer Teil der Partei. Es muss sich um Ausnahmen handeln in denen das angewandt wird, denn sobald es eine größere Menge Abgeordneter ist, können diese einfach unmöglich im Entscheidungsprozess ignoriert werden und ihre Meinung wird ganz einfach in die Programmatik einfließen, ob die Parteispitze das nun will oder nicht, denn die Abhängigkeit ist wechselseitig, die Parteispitze braucht ihre Abgeordneten ebenso dringend wie andersrum und den Druck den zB der Teil eines Viertels der Abgeordneten einer Partei ausmachen kann, ist enorm. Da geht es um die Führungspositionen, um das Image der Partei als einig und stark, um die Regierungsfähigkeit und im Extremfall um den Zusammenbruch oder die Teilung der Partei. Man darf den "Fraktionszwang" auf gar keinen Fall mit einem hierarchischen System verwechseln, bei dem einzelne Parteispitzen den Rest der Partei nach Belieben bestimmen könnten und einfach aussortieren wenn es ihnen nicht passt. Und das ist ein sehr sehr wichtiger Punkt: Wären die Differenzen zwischen Partei und einer relevanten Anzahl an Abgeordneten wirklich so groß, würde sich das ganz einfach auf eine der eben genannten Arten entladen. Die Sanktionsmöglichkeiten der Partei sind eindeutig begrenzt.

Weltraumechse schrieb:
Mir ist natürlich klar, dass die Politikwissenschaft in Deutschland oft sehr staatstragend daherkommt.

Dem würde ich widersprechen. Auch Politikwissenschaftler haben ein Interesse zu publizieren und zu diesem Zwecke ist es wie immer erheblich effektiver zu kritisieren und zu problematisieren anstatt "staatstragend" zu agieren und das merkt man auch. Abgesehen von ein paar Standardwerken sind eigentlich fast alle Publikationen irgendwelche Problemstellungen, es geht immer primär um die Dysfunktionalität eines Systems, um Krisen, um Reformbedürftigkeit usw. und keineswegs darum, dass alles gut sei. Aber es hat eben auch einen sehr guten Grund, das am Ende das Ergebnis steht, dass es zwar Verbesserungsbedarf und auch konkrete Vorschläge dafür gibt, die Umsetzung sich aber enorm schwierig gestaltet und zu hohe Erwartungen fehl am Platz sind. Ein politisches System zu reformieren ist ein gigantischer Aufwand, den man sich so kaum vorstellen kann. Wenn man sich allein mal ansieht, was für ein unfassbares Hexenwerk es war das deutsche Wahlrecht ein klein wenig zu reformieren um dem Problem der Überhangsmandate und des negativen Stimmgewichts (aufgrund komplexer Rechnungsmethoden war es in Einzelfällen möglich, dass man mit einem schmalen Grad an mehr Stimmen einen Sitz weniger bekommt und andersrum) Herr zu werden. Das haben die meisten Deutschen nicht mal mitbekommen, dabei war der Aufwand wie gesagt enorm, es wurde über viele Jahre beraten, probiert und reflektiert.

Wie genau das in Neuseeland ablief weiß ich jetzt gerade nicht, ich weiß aber, dass es in Neuseeland nicht mal eine festgeschrieben Verfassung gibt und es sich um ein wesentlich kleineres Land handelt, das außerdem durch seine geographische Isolation auch deutlich weniger Verstrickungen hat, als das deutsche System. Und auch dann bezweifle ich, dass das mal "eben so" geschehen ist.
Natürlich sollte man sich niemals andere Wege verbauen und jede Option offen halten. Aber die Frage ist doch, wo wäre denn ein ausreichender Konsens für Reformen da? Gäbe es wirklich eine Alternative, mit der der Schnitt der Bevölkerung und der Eliten plötzlich zufriedener wäre? Und zu welchem Preis sollte das geschehen? Jeder hat eine Vorstellung wie es besser sein könnte und hat daher eine gewisse Unzufriedenheit mit dem aktuellen System, doch wenn man ehrlich ist reicht dieser Konsens eben nicht über die Unzufriedenheit hinaus und ist nicht in der Lage konstruktiv eine Alternative zu erschaffen.

LG
Inc

PS: Ohje, mir fällt gerade auf, wir haben uns vom Thema der Grünen und Cannabis inzwischen sehr weit entfernt, wir sollten das ggf. an anderer Stelle fortführen.
„Ich bin nicht glücklich weils vorbei ist, es ist vorbei weil ich jetzt glücklich bin“
Degenhardt

"Mit Ehrlichkeit kommt man nicht weit, doch ohne Ehrlichkeit kommt man nicht nah"
Maeckes

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