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Titel:Koffein - mehr als gedacht? Portrait einer Volksdroge.
Droge:Koffein-Tabletten
Autor:Zoltan Chivay
Datum:31.05.2019 14:18
Nützlichkeit:8,71 von 10 möglichen   (35 Stimmen abgegeben)

Bericht::

„Coffein ist ein die Aktivität von Nerven anregender Bestandteil von Genussmitteln wie Kaffee, Tee, Cola, Mate, Guaraná, Energy-Drinks und (in geringeren Mengen) von Kakao. In chemisch reiner Form tritt es als weißes, geruchloses, kristallines Pulver mit bitterem Geschmack auf.

Coffein ist die am häufigsten konsumierte pharmakologisch aktive Substanz.“

-Wikipedia, Die freie Enzyklopädie



Ein LZ-Bericht zu Koffein? Wie öde! Was kommt als nächstes, ein Bericht zu Kamillentee? Das denkt sich vielleicht der ein oder andere wenn er über diesen Bericht stolpert während er gerade genüsslich seinen Morgenkaffee trinkt.

Moment – Morgenkaffee? Etwa dieses psychoaktive Getränk mit bis zu 120 mg Koffein pro Tasse?

Still und heimlich steht Koffein dort, an der Spitze der bewusstseinsverändernden Substanzen.

Unscheinbar und doch unangefochten. Aber warum, wenn es noch nicht mal einen spürbaren Rausch auslöst? Meiner Meinung nach ist genau diese Subtilität der Grund für seine Spitzenposition.



In der richtigen Dosierung ist es die perfekte Arbeitsdroge.



Ein typischer Tag mit Koffein:

Ich wache auf und fühle mich irgendwie schlecht. Nicht krank, aber auch nicht wirklich leistungsfähig, die Stimmung ist gedrückt. Brain Fog, wie es so schön auf Englisch heißt.

Auch während ich mich fertig mache wird es irgendwie nicht gerade besser. Aber Moment, da gibt es doch was. Die Tüte mit dem weißen Pulver liegt noch in meinem Schrank.

Natürlich könnte ich mir auch einfach einen Kaffee fertig machen, aber mir geht es nicht um den Geschmack. Ging es nie.

Ich lege mir in etwa 50-60 mg des Pulvers mit meinem Dosierlöffel unter die Zunge und heiße den bitteren Geschmack willkommen. Zuerst fand ich ihn unangenehm, aber das Gehirn verknüpft schnell Geschmack und Wirkung, so wie bei Kaffeetrinkern.

50-60 mg, mein Sweet Spot, ohne Toleranz. Je nach Stärke des Kaffees etwa eine halbe Tasse oder 200ml Energydrink. Laut Psychonautwiki zumindest eine „common dose". Bei weniger sind die Effekte schwach ausgeprägt, ab ca. 50 mg mehr überwiegt eine unangenehme Agitiertheit und körperliche Nebenwirkungen, wie schwitzige Hände und erhöhte Herzfrequenz.



Während der letzten Meter mit dem Rad zur Arbeit spüre ich bereits die Wirkung. Jeder von euch kennt Koffein, es ist kein Flash. Eher als würde jemand ein Tuch aus Müdigkeit langsam wegziehen. Die Haare an meinen Armen richten sich etwas auf.

Der Tag lächelt mir zu und sagt: Los, mach das Beste aus mir. Unwillkürlich lächle ich zurück. Eine ganz leichte Euphorie, fast unmerklich aber doch vorhanden.



Auf der Arbeit dann Motivation. Ich will arbeiten, habe Spaß daran. Spüre den Flow. Die Gespräche mit meinen Arbeitskollegen interessieren mich und ich will mich mit ihnen unterhalten. Nicht dass ich sie nicht sonst auch schätze, aber an manchen Tagen gelingt es mir einfach nicht richtig ins Gespräch zu kommen.

Zu müde, zu unmotiviert. Manch einer kennt das bestimmt, man hängt irgendwie im Kopf noch beim letzten Thema fest während die anderen schon beim nächsten sind. Heute wäre sicher so ein Tag gewesen, aber nicht mit Koffein. Ich bin fokussiert, im Moment, mein Verstand scharf wie ein Messer.

Ich nehme nicht nur teil, ich führe das Gespräch. Und es macht Spaß.



Leichter Einbruch. Kaffeepause? Redosing? Aber immer doch, her damit. Hier sind alle auf Koffein. Schichtdienst, schnell denken, keine Fehler machen.

Das Koffein ersetzt den Schlaf, zumindest für eine Weile. Manche haben so eine hohe Toleranz dass ich mir fast vorkomme als würde ich Microdosing betreiben. Ich trinke langsam meine 50/50 Tasse Milchkaffee während der Kollege neben mir schon bei seiner dritten schwarz ist.

Ein Gefühl als würde jemand den Motor wieder ankurbeln. Weiter geht’s.

Dabei bleibt die Wirkung immer schön im Hintergrund, fast nicht zu unterscheiden von Placebo. Wäre ich nicht durch meine ungewöhliche Konsummethode dafür sensibilisiert dass ich eine richtige Droge zu mir nehme, würde sie mir wahrscheinlich gar nicht auffallen.





Toleranz:

Eigentlich fast zu schön um war zu sein. Die Leistung erhöhen, legal und gesellschaftlich akzeptiert, ja sogar irgendwie erwünscht. Kaffeepause, Tee am Nachmittag, Wodka E und Havanna Cola auf der Party. Also warum nicht jeden Tag? Macht doch eh jeder, und Kaffee soll ja sogar gesund sein.

Aber es ist wie bei jeder Droge, die Rezeptoren passen sich an, die Wirkung wird schwächer und irgendwann wird das High der neue Normalzustand. Um wieder etwas zu spüren muss die Dosis erhöht werden.

Manch einer trinkt mehr als einen Liter Kaffee am Tag. Das sind etwa 800mg Koffein! Ohne Toleranz unmöglich damit zu arbeiten, doch mit reicht es gerade so durch den Tag.





Entzug:

Aber was passiert jetzt wenn man dieses Stimulans vom einen auf den anderen Tag weglässt?

Es wird sicher keiner einen stationären Koffeinentzug machen müssen, aber angenehm ist er auch nicht gerade.

Man fühlt sich einfach nur müde und ausgekotzt. Bohrende Kopfschmerzen. Die Gedanken langsam und träge, die Stimmung depressiv. Gestern war ich noch so charismatisch und positiv, heute denke ich nur darüber nach möglichst schnell wieder ins Bett zu kriechen. Und das starke Verlangen nach einem ordentlichen Kaffee oder Energydrink. Das Ganze hält bis zu 3 Tage an und lässt dann langsam nach.



Aber genauso subtil wie die Wirkung ist auch der Entzug. Habe ich vielleicht einfach nur einen schlechten Tag oder werde krank? Wirklich schwer zu sagen, aber ein Test schafft Gewissheit: Die gewohnte Menge Koffein, und innerhalb von 30 Minuten verschwinden die Kopfschmerzen und die Sonne fängt wieder an zu scheinen. Dieses Gefühl ist irgendwie verdammt geil.

Wer jetzt ehrlich zu sich ist merkt: Ja, ich bin tatsächlich abhängig von Koffein. Aber damit in guter Gesellschaft, wahrscheinlich sind es weit mehr als 50% der Deutschen, und die meisten merken es noch nicht mal.



Warum dann überhaupt aufhören? Im Internet finden sich viele Berichte von Leuten die von diversen positiven Veränderungen durch den Verzicht auf Koffein berichten. Wie viel davon stimmt kann ich nicht beurteilen. Meine Motivation ist einzig und allein dass ich von keiner Substanz abhängig sein möchte, noch nicht mal von Koffein.

Wobei das wohl eher eine ideologische Sache ist. Ein Mensch lebt höchstwahrscheinlich nicht besser oder schlechter wenn er jeden Tag Koffein zu sich nimmt, er ist halt nur in gewissem Maße abhängig.



Wer aussteigen will hat es aber schwer, die Versuchung ist an jeder Ecke. Kompletter Verzicht ist aber bei Koffein sicherlich auch gar nicht notwendig. Irgendwo will man ja auch leben und sich mal eine Cola gönnen. Nur der Grat ist schmal, das eklige Entzugsgefühl schnell vergessen, ein paar mal schlecht geschlafen und mit Koffein nachgeholfen, schon ist man wieder beim täglichen Konsum.



Es ist eben doch eine "richtige" Droge. Allerdings eine die so stark in die Gesellschaft integriert ist dass sie noch nicht mal mehr als solche wahrgenommen wird. Es ist sogar eine richtige Kultur zu den einzelnen Zubereitungsformen entstanden. Die jungen nippen an ihrer Cola, die alten machen Kaffekränzchen. Der Sportler schätzt seine leistungssteigernde Wirkung im Pre-Workout-Booster, der Schichtarbeiter hält sich mit Red-Bull (verleiht Flügel) wach. Beim Feiern natürlich immer dabei, beim ersten Date geht man einen Cappuccino trinken.



Und alles vor dem ersten Kaffee ist sowieso Notwehr - bis der warme Trunk dann endlich die einsetzenden Entzugserscheinungen bekämpft.