Tripbericht lesen

Übersicht:

Titel:Sobriety for beginners
Drogen:Kakao
Autor:anonym
Datum:19.12.2018 18:58
Set:Desillusioniert
Setting:Der ganz normale Alltag
Nützlichkeit:9,70 von 10 möglichen   (50 Stimmen abgegeben)

Bericht:

Der Tag beginnt und ich bin nüchtern. Das heißt, ich habe seit zwei Jahren kein Venlafaxin mehr genommen, seit drei Tagen kein Pregabalin,
seit ungefähr einem Monat kein Kokain, seit über acht Jahren nicht mehr gekifft, seit etwa einem Monat kein LSD,
seit knapp zwei Monaten kein MDMA und Pep, alle anderen Drogen schon seit über zehn Jahren nicht mehr.
Ach ja, Kratom bin ich auch nach Jahren los. Kurz: so nüchtern wie es mir zur Zeit möglich ist.
In diesen substanzfreien Zeiten häufen sich Ereignisse, die wohl nur interessant gefunden werden von analytisch veranlagten Forschernaturen,
die die Fähigkeit besitzen sich nach Bedarf außerhalb des realen Geschehens zu stellen. Ich habe diese Fähigkeit nur an seltenen Tagen.

Ich stelle mich in der Pause mit meinem Wagen in den Schatten eines bewaldeten Teils mitten in der Großstadt in der ich arbeite.
Es ist heiß, der Schatten tut mir gut und ich staune über die Idylle, die die Stadt überraschend noch zu bieten hat.
Ich war noch nie hier, steige aus dem Wagen und mache ein Foto um es einem Freund später zu zeigen.
Ich steige wieder ein, fange an in einem Buch zu lesen, da klopft es und zwei Frauen stehen vor mir.
Eine fragt mich: „was machen sie hier?”
Ich: „Pause”
Sie: „Was haben Sie geknipst?”
Ich: „Die Allee, die Bäume und wie schön es hier ist”
Sie: „Warum hier?”
Ich: „Bitte sagen sie mir, was sie mir wirklich sagen wollen.”
Sie: „Sie stehen hier vor dem Kindergarten in den unsere Kinder gehen.”
Ich: „Ach so, jetzt verstehe ich, hier schauen sie, das sind die Fotos die ich gemacht habe”
Die andere: „Hey, darauf ist mein Auto zu sehen.”
Ich erkläre noch einmal, dass weder Menschen, noch Autos und ganz gewiss keine Kinder mein bevorzugtes Motiv sind
und schließlich lösche ich die Fotos unter den selbstgerechten Blicken der Frauen.
Doch die beiden lösen die Situation nicht auf und verlassen mich mit dem Gefühl, etwas furchtbares getan zu haben
und mit den Blicken von Müttern, die gerade noch den Missbrauch ihrer Kinder abwenden konnten.
Ich habe Angst, mich in irgendwelchen facebook-, oder ähnlichen Gruppen als potentieller Kinderschänder wiederzufinden,
weil ich mir für meine Mittagspause den falschen Ort ausgesucht habe.

Ein anderer Tag, ein diesmal bewusst gewählter Park ohne Kindergarten. Wieder sitze ich in der Pause im Auto, lese und genieße den Schatten.
Eine türkische Familie parkt ihr Auto neben mir und sie warten offenbar auf jemanden.
Die Mutter fragt mich, ob ich noch lange dort stehe. Ich sage, dass ich in ein paar Minuten weiter muss.
Sie sagt, dass sie sich freuen würde, wenn ich auf ihre Schwester wartete, damit sie dort parken könnte, da sonst nichts frei wäre.
Ich sage: „Klar” und sie bedankt sich höflich und die Kinder spielen und haben Spaß.
Zwei deutsche graugesichtige Mittvierziger schieben ihre Räder vorbei und eins der türkischen Kinder trifft mit dem Ball leicht den Gepäckträger.
Für alle gut hörbar sagt einer der Deutschen: „Scheißkanacken.” Mein Reflexmund ruft: „halt dein Maul, du Wurst.”
Die Mutter der Kinder sagt danach zu mir, das wäre nichts Besonderes. Wir verabschieden uns als ihre Schwester eintrifft und sie bedankt sich fürs Warten.

Ich stehe an der Ampel und sehe eine junge Frau auf dem Fahrrad.
Zwei arabisch aussehende Jugendliche laufen auf dem Fahrradweg und sie klingelt. Die zwei gehen aus dem Weg und rufen ihr „du Scheißfotze” hinterher.

Im Radio laufen die Nachrichten, Immigration, AfD, die Krise der „Volksparteien”, Hass, Gier und Intrigen aus aller Welt,
wie gut Wachstum für uns alle ist und das Wetter.
Ich mache das Radio aus und später fahre ich meinen Vater im Pflegeheim besuchen. Hat sein Leben lang geschuftet und gespart.
Für seinen Lebensabend und für seine Kinder. Nach einem Jahr war alles weg für die Heimunterbringung.
Über Zweitausend pro Monat und trotzdem klingelt er oft eine halbe Stunde, bevor ihn jemand vom Scheißhaus holt.
Den Alten weinen zu sehen hat mir so den Stecker gezogen, dass ich eine rauchen gehe.
Eine Pflegerin raucht mit und wir sind uns einig, was die Organisation von Pflege in Deutschland angeht.
Noch geht es, sagt sie. Bis die Privatisierung des Ladens kommt dauert es noch ein bis zwei Jahre, darüber hinaus will sie nicht denken.
Ich auch nicht.

Auf dem Heimweg nochmal der Versuch Radio zu hören. Fehlanzeige, ich warte seit Jahren auf Stimmen aus dem Äther,
die im Interview der Politikprominenz ihr trickle-down Geschwätz um die Ohren hauen und die Wachstumsökonomie zu Terrorismus erklären.
Da wird nix draus. Tausend potentielle Skandale häufen sich in den Nachrichten, Brasilien wählt einen schwulenfeindlichen Sozialdarwinisten,
der die Regenwälder verscheuern und abholzen will.
Deutschland ist auch scheinbar wieder so weit für eine starke Hand.
Schwere Zeiten für Menschen, die Liebe, Respekt, Ruhe und Natur gut finden.
Geht auch an mir nicht spurlos vobei. Dem Nächsten, der mich als Gutmensch beschimpft, dem schlage ich ein paar Zähne ein.

Ich schreibe all das auf und komme mir larmoyant vor, mein eigenes Gejammer kotzt mich an.
Wenn die zwei Jahre um sind und die Kasse wieder die Kosten übernimmt, such ich mir einen frischen Therapeuten.
Der stellt dann meine Funktion wieder her und ich ziehe auf der Arbeit nicht mehr so eine Fresse, dass sich alle fragen, was mit mir los ist.
Es gibt so viel Positives. Die Jahreszeiten, der ewige Kreislauf der Natur, der Gesang der Singvögel, der Geruch des Waldes wenn es geregnet hat,
freundliche Worte von unbekannten Menschen, kleine Gesten von Menschlichkeit.
All das sauge ich gierig in mich rein und suche danach.
Manchmal verschenke ich auch ein Lächeln von mir wahllos, jemand wird es vielleicht an diesem Tag brauchen können.
Oft kommt das nicht gut an. Die Kerle fühlen sich verarscht und die Frauen denken du willst sie ficken.
Mich macht dieses Misstrauen müde.

Nun, mit über 50 kann ich immer weniger akzeptieren, wie die Welt tickt. Gibt auch keine „Seite” mehr für die ich Stellung beziehen könnte.
Die Feindbilder aus der Jugend funktionieren nicht mehr zuverlässig, mit den Jahren lernt der Mensch zu viele Grauabstufungen.
Nur das Bedürfnis nach Zuflucht, Liebe und Abwesenheit von Schmerz bleibt. Das wollen alle für sich, oder?
Anderen dies zugestehen ist wieder eine ganz andere Kiste. Das gibt die Realität nicht mehr umsonst heraus.

Hin und wieder hab ich so Diplomatie-Kicks und fange an, im Netz mit Leuten über politische Themen zu diskutieren.
Die fast schon naturgesetzmäßige Entgleisung innerhalb weniger Beiträge bewirkt, dass mir klar wird, dass es wenige Optionen für Nischen gibt, in denen es sich leben lässt.
Nur noch wenig sprechen und das nur mit vertrauten Menschen und Freunden.
Das Internet meiden wie früher Kneipen, in denen nur Schläger und Halbfaschos abhingen.
Zuletzt der gute alte Eskapismus in Form von Drogenkonsum um die tausend hasserfüllten hysterisch keifenden Stimmen zum Schweigen zu bringen.
Die Simulation von Hoffnung.
Mein Hang zum Exzess lässt mich ahnen wo das endet. Nüchtern sein scheidet auf Dauer jedenfalls aus. Ich hab es wirklich versucht.